29.01.2019 / Knud Wassermann

Das postdigitale Zeitalter hat schon begonnen

Mit dem jährlichen Zukunftsreport liefern Matthias Horx und sein Zukunftsinstitut mit Sitz in Frankfurt und Wien Aus- und Einblicke zu aktuellen Trends und Innovationen. Ein Impulsgeber, um am Anfang des Jahres über den Tellerrand hinauszublicken und vielleicht das eine oder andere in seine eigenen Überlegungen und Pläne mit einzubinden.

Während wir gerade noch die Hausaufgaben für die Umsetzung der digitalen Transformation erledigen, beschäftigt sich Matthias Horx intensiv mit der Frage: Was kommt danach auf uns zu? Sie sind schon spürbar, die ersten Anzeichen einer digitalen Erschöpfung. Der Zukunftsforscher glaubt, dass wir auf einen Tipping Point zusteuern, an dem die digitale Dynamik ins Wanken gerät.

Denn das Versprechen der Umwälzung aller Dinge durch die Digitalisierung werde zunehmend weniger als Verheissung empfunden, sondern vor allem auch als Überforderung, die in einer Entmenschlichung mündet. In den USA sei eine radikale Debatte über die Folgeschäden der sozialen Medien in Gang gekommen, die auch ihre Spuren in Europa hinterlassen wird. Spätestens dann, wenn bekannt wird, dass die nächsten anstehenden Wahlen von wem auch immer digital beeinflusst wurden.

Um die Auswirkungen der digitalen Kommunikation zu verstehen, sei es ratsam, sowohl ökonomische als auch psychologische Parameter heranzuziehen. Die Ökonomie lässt sich als Formel der akkumulierten Klicks darstellen – und genau darin sieht Horx die Gefahr, dass Social-Media-Kanäle zu absoluten Manipulationsmaschinen verkommen und Menschen süchtig und unmündig machen.

Klicks haben aber auch einen direkten Einfluss auf unsere Motivation, denn mit jedem Klick werden von unserem Organismus Glückshormone wie Dopamin und Endorphine freigesetzt. Die Anzahl der Klicks, Likes oder Follower entscheidet auch über unseren Gefühlszustand. Wer hätte gedacht, dass wir freiwillig und ohne es zu merken bereit sind, so viel Macht an das Internet abzutreten?
Alexa, kannst du mir beim Dating helfen?
Obwohl heute an die vier Milliarden Menschen über das Internet miteinander in Kontakt treten können, und das ständig und rund um die Uhr, hat die digitale Einsamkeit deutlich zugenommen. Soziale Bindungen würden sich zunehmend auflösen, was zu einer Verschärfung der digitalen Unverbindlichkeit beitrage. Den Beweis dazu liefert der Sprachassistent Alexa. Die am meisten gestellte Frage lautet, ob Alexa beim Dating helfen kann.

Mit dem Internet hat aber auch jeder ein eigenes Megafon in die Hand bekommen, und so werden rund um die Uhr Millionen von Meinungen in das digitale Nirwana gepostet. Allerdings ist durch die Anonymität jeder Anstand verloren gegangen, und keiner muss sich für die Veröffentlichung von Fake News verantworten. Es wird darauf losgeschimpft, was das Zeug hält. Horx spricht hier von einer Empörokratie, in der sich eine verbale Verunglimpfung breit mache, die so nicht hinzunehmen sei.
Wenn alles unendlich kopier- und verfügbar ist, wird das Einmalige, Spezifische, Anfassbare zum neuen Luxus.
Matthias Horx: Gründete das deutsche Zukunftsinstitut.
Elektronische Hausmeister
Die digitale Evolution stecke längst in einer Grenznutzenkrise und widme sich immer mehr und mehr reinen Banalitäten. Die reale Innovationsrate von digitalen Geräten, die dem Anwender einen Mehrwert liefern, verlangsamt sich seit etwa fünf Jahren. Das private «Smarthome» erweise sich als mühsame Angelegenheit, welche die Bewohner zu eigenen elektronischen Hausmeistern mache. Hier stellt sich dann die Frage, ob man den Job wirklich machen will.

Die Unschärfe des menschlichen Lebens lasse sich trotz künstlicher Intelligenz auch in Zukunft nicht eindeutig festhalten und vor allem nicht immer in der richtigen Art und Weise interpretieren. Das zeigt sich bei Menschen mit multiplen Krankheiten, die im Gegensatz zu gesunden Menschen auf ein ständiges Monitoring verzichten. Sie beziehen ihre Lebensfreude aus dem Vertrauen, dass alles wieder gut wird. Ständige Überwachung und zu viel Wissen schränke die Lebensqualität ein, gibt Horx zu bedenken.
Die Rache des Analogen
Es gibt Anzeichen dafür, dass analoge Technologien wieder ein Comeback feiern. Das beste Beispiel dafür sind Vinylplatten, die mit HD-Vinyl sogar vor einem Innovationssprung stehen. Und klassische Notizbücher haben sich zum Dauerbrenner gemausert (siehe dazu den Artikel im Müller Martini-Kundenmagazin «Panorama» 1/17). Einen Nostalgiereflex kann Horx hier nicht erkennen, sondern er sieht darin die Sehnsucht nach Signifikanz. «Wenn alles unendlich kopier- und verfügbar ist, wird das Einmalige, Spezifische, Anfassbare zum neuen Luxus.»

Und nicht zuletzt sieht Horx die Erwartungen an die künstliche Intelligenz weit überzogen. «Etwas in uns sehnt sich wohl nach Selbstaufgabe, in der wir alles Schwierige, Menschliche auf Maschinen übertragen können.» Daraus entsteht auch die weit verbreitete Annahme, dass gegen die Übermacht der Digitalisierung kein Kraut gewachsen sei. Dem Digitalfatalismus auf der einen und dem Digitalfanatismus auf der anderen Seite, sei mit einem digitalen Realismus entgegenzutreten, denn menschliche und technische Systeme befänden sich in einer immerwährenden Co-Evolution.
Um sich dieser Evolution zu stellen, braucht es aber Mut und Selbstbewusstsein. Digitale Systeme in Kombination mit künstlicher Intelligenz können vieles optimieren, aber Entscheidungen denen Werte und Prioritäten zugrunde liegen, lassen sich nicht auf Maschinen auslagern. Hier sei auch in Zukunft der Mensch, die Gesellschaft und Politik gefordert. In der Ära der Post-Digitalisierung gehe es um den humanen Nettogewinn, der daraus entsteht, wenn man das Informelle klug mit dem Kognitiven, das Kommunikative mit dem Reflektiven und das Systemische mit dem Sinnlichen verbindet. Dadurch könne man sich, so Horx, von dem ständigen Innovationsdruck befreien, auf Pseudoinnovationen verzichten – und selbst entscheiden, was echter Fortschritt sei.