Die Harry-Potter-Zeitung

Mit täglich 15 Augmented-Reality-Animationen verbindet der «Weser-Kurier» im deutschen Bremen gedruckte Zeitungsinhalte mit multimedialen Effekten. Damit werden gezielt jüngere Leser angesprochen.

«Wir müssen mit unserer Tageszeitung neuen Sehgewohnheiten Rechnung tragen. Deshalb legen wir heute mehr Wert auf die Bildsprache. Augmented Reality ist dabei ein Hilfsmittel und eine Chance, mit multimedialen Inhalten andere Zielgruppen, vor allem Jüngere zu erreichen und zugleich unser Hauptprodukt mit einer Innovation deutlich aufzuwerten», sagt Christian Wagner.

«Panorama» unterhielt sich mit dem Geschäftsführenden Redakteur bei der Weser-Kurier Mediengruppe und Geschäftsführer der Weser-Kurier Digital GmbH, der seit 33 Jahren in verschiedenen Positionen für die Bremer Zeitungsgruppe arbeitet und Spiritus Rector des Augmented-Reality-Projekts ist.

«Panorama»: Seit 2013 platziert der «Weser-Kurier» als erste deutsche Tageszeitung Augmented-Reality-Inhalte. Warum kombinieren Sie gedruckte Zeitungsartikel mit Online-Elementen?

Christian Wagner: Wir haben in den vergangenen zehn Jahren mehrere digitale Innovationen lanciert – die E-Paper-Ausgabe unter dem Motto «Die gedruckte Zeitung von morgen schon heute», das für unsere Abonnenten kostenlose elektronische Archiv mit jeder bis heute erschienenen Ausgabe, den Web-Auftritt und eine News-App. Mit Augmented Reality haben wir bewusst keine reine digitale Neuentwicklung gewählt, sondern eine Interaktion zwischen der gedruckten und digitalen Welt…

…womit Sie die Printversion Ihrer Zeitung aufwerten.

Ja, denn Sie müssen die gedruckten Zeitungsseiten vor sich haben, um unsere Animationen mittels einer kostenlosen App sehen zu können. Insofern ist AR tatsächlich eine Erweiterung der Zeitung oder – etwas pointierter formuliert – die Verwirklichung der Harry-Potter-Zeitung. Unser damaliger Anzeigenleiter Michael Sulenski und unser Vorstandsmitglied Eric Dauphin hatten von Anfang an den Glauben und die Fantasie, dass aus diesem Mehrwert etwas Interessantes entstehen könnte.

Inwiefern ist AR für den «Weser-Kurier» als Lokalzeitung eine besondere Herausforderung?

Die Herausforderung liegt weniger in den Themen – die finden wir immer. Vielmehr fordert uns als Tageszeitung der kurze Produktionsprozess. Und gefordert ist natürlich auch das Personal. Unsere Redakteure mussten umdenken und lernen, wie man Artikel mit attraktiven visuellen Elementen begleiten kann.

Mit Augmented Reality hat der «Weser-Kurier» bewusst keine reine digitale Neuentwicklung gewählt, sondern eine Interaktion zwischen der gedruckten und digitalen Welt.

Wie viele AR-Effekte publizieren Sie pro Ausgabe?

15 – zehn in der Hauptausgabe, fünf in einer regionalen Beilage. Darunter befinden sich auch einige wiederkehrende, automatisierte Effekte wie etwa das Wetter. Wenn unsere Leser das Wetter über Augmented Reality aufrufen, haben sie immer die aktuellste Version der Regenvorschau.

Berücksichtigen Sie vorwiegend lokale Themen?

Ja, als Lokalzeitung setzen wir bewusst auf lokale Themen wie beispielsweise Videos von Pressekonferenzen des Bundesliga-Klubs SV Werder Bremen oder Interviews mit Kommunalpolitikern. Dazu habe ich eine schöne Geschichte. Ein Politiker nahm mal für die schriftliche Version eines Interviews beim Gegenlesen etliche Anpassungen vor. Auf dem Video, für das er keine Freigabe verlangt hatte, war jedoch die Original-Version zu hören – womit es auf entsprechend grosses Interesse stiess...

Welche Formen von Augmented Reality verwenden Sie?

Wir setzen oft auf Videos, deren maximale Länge wir von anfänglich vier Minuten auf 90 Sekunden gekürzt haben, damit die Leute nicht aussteigen. Dann zeigen wir regelmässig Bilderstrecken und – etwa bei Bauvorhaben – 3D-Animationen. Wir verwenden aber auch Audios wie neulich bei einem Artikel über die Vögel des Jahres mit Vogelstimmen. Und wir verweisen gelegentlich auch auf längere Textversionen als die in der Zeitung gedruckten.

«Augmented Reality ist ein ideales Feature, um über die Tageszeitung jüngere Leser anzusprechen.»

Bieten Sie AR-Elemente auch Ihre Anzeigenkunden an?

Ja, sowohl für klassische Anzeigen in der Tageszeitung als auch für Tabloid-Beilagen. Wir sind überzeugt, dass diese Werbeform Potenzial hat. Aber sie muss sehr sorgfältig geplant werden, denn das Response-Ergebnis kann auf jeden einzelnen User genau ermittelt werden. Und wenn der Response zu tief liegt, ist der Anzeigenkunde natürlich nicht zufrieden. Deshalb hat bei dieser Werbeform der Response sehr viel damit zu tun, wie gut die Anzeige mit einem AR-Element vorbereitet worden ist. Man sollte besser keinen AR-Effekt verkaufen als einen schlechten.

Wie lange kann man die AR-Elemente aus dem «Weser-Kurier» downloaden?

Ursprünglich waren es 30 Tage, aber das machte wenig Sinn. Erstens benötigten wir dafür grosse Serverkapazitäten. Und zweitens haben wir gemerkt, dass gut 80 Prozent der AR-Animationen am Erscheinungstag angeschaut werden. Deshalb speichern wir die Effekte jetzt nur noch sieben Tage.

Arbeiten Sie bei der Konzeption und Umsetzung von AR-Elementen mit einem externen Dienstleister zusammen, oder machen Sie alles inhouse?

Bis vor wenigen Wochen lieferten wir das AR-Material einem externen Partner, der für das Finishing verantwortlich war. Nun machen wir jedoch alles mit eigenen Leuten. Das hat den grossen Vorteil, dass wir länger Zeit haben, die Animationen fertigzustellen. So sind wir flexibler, während wir früher einen exakten Zeitplan einhalten mussten.

Sie haben den grossen Zeitdruck bei einer Tageszeitung: Wie lässt sich dieser mit der Produktion von AR-Elementen vereinbaren?

Weil wir jetzt alles inhouse machen, ist der Produktions-Workflow wesentlich angenehmer. Die Redaktion, die nun auch für das AR-Finishing zuständig ist, arbeitet üblicherweise bis 23 Uhr. AR-Aktualisierungen sind jedoch auch danach jederzeit möglich. So können wir unseren Lesern beispielsweise Wahlergebnisse oder Sportresultate über den Drucktermin hinaus vermitteln.

Sind AR auch Grenzen gesteckt?

Leider ist es bis heute noch nicht möglich, Schrift-Elemente zu augmentieren. Es braucht immer ein Bild (und dieses in einer bestimmten Grösse), damit das Smartphone die Animation starten kann.

Inwiefern hat AR die tägliche Arbeit der Journalisten verändert?

Wir mussten sehr stark umdenken, und es ist an der Tageskonferenz noch wichtiger geworden, über einen geschrieben Artikel hinaus zu planen. Wir haben in der Redaktion eigene AR-Experten, Video-Journalisten und Grafiker. Denn unsere Animationen sollen qualitativ hochstehend und nicht handgestrickt daherkommen.

Wie sehen Ihre Response-Zahlen aus?

30 000 Leute haben unsere App heruntergeladen. Den höchsten Zugriff verzeichneten wir in den Anfangszeiten, als wir zur besseren Bekanntmachung unseres neuen Services die Leser mit einem Gewinnspiel über 15 verschiedene Effekte animierten. 4000 User schauten sich alle 15 Effekte an, so dass wir auf 60 000 Zugriffe kamen – was bis heute einsamer Rekord ist. Gute Themen verzeichnen jeweils starke Ausreisser nach oben, aber dafür muss man den Leuten auch wirklich etwas bieten.

Ziehen Sie auch Schlüsse daraus, wie Ihre Leser die AR-Effekte anwenden?

Ja, für uns wirkt AR wie ein Rückkanal für die gedruckte Zeitung. Wir haben anhand der Zugriffe auf die Animationen einiges über das Verhalten unserer Leser gelernt. Zum Beispiel, dass Senioren die Zeitung oft erst am späteren Vormittag lesen. Oder dass Hintergrundberichte nicht selten an Sonntagen oder Feiertagen gelesen werden.

Die Platzierung von Augmented Reality ist das eine, die Leser auch tatsächlich zum interaktiven Handeln zu bewegen, das andere. Wie bringen Sie Ihre Leser dazu, ihr Smartphone zu aktivieren?

Wir haben in jeder Ausgabe auf Seite 2 einen kurzen Download-Tipp. Um unsere Zusatznutzen aktiv zu promoten, locken wir die Leser bei jedem Effekt mit einem inhaltsspezifischen Teaser Richtung Smartphone.

Stichwort Leser: Verfolgen Sie mit Ihrer Print/Multimedia-Kombination gezielt auch die Strategie, ein jüngeres, online-affineres Publikum anzusprechen?

Ja, denn als Medienhaus müssen wir auch andere Zielgruppen erreichen. Augmented Reality ist ein ideales Feature, um über die Tageszeitung jüngere Leser anzusprechen. Bisher haben wir das mit rein digitalen Kanälen versucht, nun machen wir es auch über gedruckte Inhalte.

Werden Ihrer Ansicht nach gedruckte Tageszeitungen in Zukunft verstärkt auf Online-Elemente setzen müssen, um gegen den Auflagenrückgang anzukämpfen?

Die gedruckte Zeitung ist und bleibt das Flaggschiff unseres Medienhauses – in erster Linie auch ökonomisch, denn mit den digitalen Kanälen erwirtschaften wir nur einen Bruchteil unseres Gesamtumsatzes. Doch zweifellos müssen wir auch mit unserer Tageszeitung der Hinwendung zu neuen Sehgewohnheiten Rechnung tragen. Wir wollen unsere Zeitung mit Blick auf jüngere Leser moderner gestalten – ohne mit Traditionen und Lesegewohnheiten zu brechen. Augmented Reality ist dabei ein Hilfsmittel und eine Chance, mit multimedialen Inhalten andere Zielgruppen, vor allem Jüngere zu erreichen und zugleich unser Hauptprodukt mit einer Innovation deutlich aufzuwerten.

Stichwort «Weser-Kurier»

Der «Weser-Kurier» erscheint sieben Mal pro Woche in einer geprüften Auflage von 149 255 Exemplaren und acht regionalen Ausgaben. Sein Verbreitungsgebiet ist die Stadt Bremen und das niedersächsische Umland von rund 50 Kilometern. Zusätzlich gibt die Bremer Tageszeitungen AG zweimal pro Woche fünf unterschiedliche Ausgaben des «Stadtkuriers» heraus. Im Versandraum vertraut das Zeitungshaus seit vielen Jahren auf Müller Martini-Systeme.