31.08.2021 / Hans Joachim Laue

Was für Zeiten… (Teil I)

Der 1943 geborene und seit einigen Jahren pensionierte Fachjournalist Hans Joachim Laue schaut in seinem im Selbstverlag herausgekommenen fünfbändigen «Tagebuch der Buchbinderei und Druckweiterverarbeitung» auf 500 Jahre grafisches Handwerk und Druckindustrie zurück. In zwei Blogs lässt er Sie einen Blick in sein wertvolles Nachlagewerk werfen und stellt dabei die Pioniere Friedrich von Martini, August Kolbus, Hans Müller und Kurt Stahl ins Zentrum. Ob Völker mittels Lochkarten gezählt werden oder ob Luftschiffe sich erheben, das hinderte Firmengründer nicht, eigene Wege zu gehen. So verbirgt sich auch hinter der Marke Müller Martini ein Pioniergeist in unterschiedlichen Facetten.

Bringen wir das einmal in Erinnerung: Am 1. Februar 1972 nehmen die inländischen Verkaufsabteilungen und internationalen Vertriebsgesellschaften, abgetrennt von der Grapha Maschinenfabrik Hans Müller AG in Zofingen und von der Martini Buchbindereimaschinenfabrik AG in Felben, als Müller Martini AG ihre Tätigkeit auf. In Zofingen ist seither der Hauptsitz der neuen Firma mit ihren internationalen Verkaufstöchtern und Vertretungen ansässig. Aus zwei guten Namen wurde die Markenfamilie Müller Martini geformt. Doch hinter dieser Marke sind auch noch andere Persönlichkeiten verborgen, die in eigenwilligen Zeiten ihren Weg suchten und fanden.

Friedrich von Martini
Unter dem Firmennamen der Mechanischen Werkstätte Martini, Tanner & Co., Frauenfeld, wurde 1890 eine erste Fadenheftmaschine gebaut. Der Ingenieur Friedrich von Martini (1833–1897) und der Mechaniker Heinrich Tanner (1832–1898) hatten den Betrieb 1863 übernommen, der vorher noch unter der alten Firmenbezeichnung die ersten Fadenheftmaschinen herstellte. Doch die junge Maschinenbauanstalt fokussierte sich im Buchbinderei-Bereich zunächst auf Falzmaschinen.

Auf der Londoner Industrieausstellung 1851, die als erste Weltausstellung gilt, wurde dem Engländer James Black für eine von ihm erfundene Falzmaschine eine Preismedaille zuerkannt, obwohl die Konstruktion mit etlichen Mängeln behaftet gewesen sein soll. Das Falzen wurde damals in den Buchbindereien von Frauenhand mit dem Falzbein ausgeführt. Gewandte und schnelle Falzerinnen sollen für das Buchformat Oktav im Durchschnitt 300 Papierbogen stündlich geschafft haben – also drei Falzungen pro Bogen, um so auf je 8 Blätter bzw. 16 Seiten zu gelangen. 

Zehn Jahre später stellte die Maschinenbauanstalt Frauenfeld in Stuttgart zwei Falzmaschinen-Typen vor, die mit sehr guten Leistungen die Anerkennung der Sachverständigen fand. Das Modell für Bücher und Broschüren war für eine Leistung von 1400 Bogen pro Stunde ausgelegt und kostete 1200 Franken. Für 1500 Franken war der Maschinentyp für das Falzen verschiedener Zeitungsformatbogen in drei bis sechs Brüchen erhältlich und leistete gar 3000 Bogen pro Stunde – zehnmal mehr als manuell jemals möglich gewesen wäre. Der Antrieb dieser Maschinen war von der Dampfmaschine über Transmissionsriemen möglich.

Von der Falzmaschine zur Doppelfalzmaschine 
Fast unverändert wurden diese Maschinentypen 20 Jahre lang produziert, gesamthaft an die 350 Stück – trotz des nach dem Wiener Börsenkrachs 1873 einsetzenden, über 20 Jahre anhaltenden Konjunkturtiefs der Weltwirtschaft im Frühstadium der Industrialisierung. Die auch als «lange Depression» bezeichnete Phase förderte die Nachfrage nach Lesestoff. Und auch der weitere Ausbau des Eisenbahnnetzes tat ein Übriges. Mehrheitlich wurden die Falzmaschinen nach Deutschland exportiert. Der Transport erfolgte per Eisenbahn, die damals noch junge Verkehrstechnik. Die Monteure reisten in der 3. Klasse der Bahngesellschaften.

Friedrich von Martini entwickelte die einfache Falzmaschine zu einer Doppelfalzmaschine weiter, die 1876 Marktreife erlangte. Es wurden an die 300 Stück hergestellt. Noch im mehrbändigen «Brockhaus» von 1892, einem führenden deutschen Lexikon, ist die Doppelfalzmaschine als Beispiel abgebildet. Der innovative Geist des Unternehmers Martini führte zu zahlreichen Patenten und Eigenkonstruktionen, so auch um 1890 von einer Fadenheftmaschine, die überdies durch Lizenzerwerb immer weiter verbessert wurde, bis hin zur im Jahr 1900 patentierten Broschüren-Fadenheftmaschine «National I» – ein Grundstein des anhaltenden Weltrufs im Buchbinderei-Maschinenbau.

1890: Hollerith-Lochkarte
Unterdessen findet in den fernen USA im Juni 1890 die 11. Volkszählung statt. Für die Auswertung der Fragebögen wird die Lochkartentechnik des Erfinders Herman Hollerith (1860–1929) aus Buffalo im Bundestaat New York eingesetzt. Mit diesem ersten Grosseinsatz einer maschinellen Datenverarbeitung benötigen die US-Datenerheber nur noch ein gutes Jahr für die Zählung der Bevölkerung von fast 63 Millionen Bürgern. 

Zum Vergleich: Bei der 10. Volkszählung 1880 dauert es fast acht Jahre, bis man zum Ergebnis von 50 Millionen Einwohnern kommt. Die offizielle Bevölkerungszahl Deutschlands beträgt um 1890 etwas mehr als 49 Millionen. Holleriths Datenverarbeitungsgeräte helfen im Dezember 1890 auch in Österreich-Ungarn bei der Volkszählung. Die Hollerith-Lochkarte wird zum Symbol der Computertechnik in ihrem Frühstadium. Aus der Firma, die Hollerith gründet, geht ab 1924 die International Business Machines Corporation IBM hervor, ein weltweit führendes IT-Unternehmen.

August Kolbus
Es war einmal ein Schmied. Kaum aus preussischen Diensten entlassen, richtete sich 1775 Christian Heinrich Kolbus in Rahden (heute mit 15 000 Einwohnern die nördlichste Stadt im deutschen Bundesland Nordrhein-Westwalen) eine Dorfschmiede ein. 110 Jahre später wanderte sein 16-jähriger Urenkel August Kolbus nach Amerika aus. Ob zufällig oder gewollt, er bekam Arbeit in der Company Edwin Crawley (1826–1902) in Newport im Bundestaat Kentucky. Geboren in Philadelphia, wurde Crawley 1849 vom Goldrausch in Kalifornien infiziert. 

Mit oder ohne gefundene Goldnuggets gründete er, der eine Leidenschaft für Bücher hatte, seine Firma in Kentucky. Crawley erfand einige zeitsparende wie arbeitserleichternde Apparate für Buchbinder, für die ihm zwischen 1876 und 1892 mehrere US-Patente zuerkannt wurden. Unter anderem auch für eine Buchrückenrunde- und Abpressmaschine, bei der in Mitteleuropa der Leipziger Fabrikant August Fomm (1828–1898) als Ersterfinder gilt.

Das hinderte August Kolbus (1869–1941) nicht daran, nach der Rückkehr aus den Vereinigten Staaten 1898, wo er sich bis zum Werkmeister hocharbeitete, im väterlichen Betrieb für frischen Wind zu sorgen. Er brachte die Erfahrungen seiner US-Liaison ein. August Kolbus entwickelte und baute nach seinen Vorstellungen die Buchrunde- und Abpressmaschine namens Rupert. Mit dieser ersten Buchbindereimaschine im Jahr 1900 wurde der Grundstein der Rahdener Maschinenfabrik Aug. Kolbus gelegt. 

55 Jahre lang stellte man «den» Rupert her. Ab 1910 wurde das Maschinenprogramm mit der Buchprägepresse Blockert erweitert. Nach dem Ersten Weltkrieg und den Inflationsjahren ging es dann beinahe schlagartig weiter: 1927 erste Buchdeckenmaschine KD, 1928 die GD, 1930 (Dreiflügel-) Bucheinhängemaschine EM und Prägepressen I und II. Der Mitarbeiterbestand wuchs auf 90 Personen und der Exportanteil auf 80 Prozent.

Ab 1933, dem Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, kam das Exportgeschäft mehr oder weniger zum Erliegen. Die Firma hielt sich während des Zweiten Weltkriegs mit Rüstungsaufträgen über Wasser. August Kolbus erlebte das Ende nicht mehr, er starb im Dezember 1941.

1900: Zeppelin-Luftschiff
LZ-1, in der Form einer Zigarre ähnlich, aber 128 Meter lang und mit einem Durchmesser von mehreren Hausetagen, ist das erste starre Luftschiff des anfangs nicht ernst genommenen Grafen von Zeppelin (1838–1917). Am 2. Juli 1900 wagt er den Jungfernflug in einer Bodensee-Bucht bei Friedrichshafen. 18 Minuten dauert der Flug, erreicht eine Höhe von 400 Metern und vom Startpunkt weg eine Entfernung von 6,5 Kilometern. Doch dann muss LZ-1 wegen eines technischen Defekts mit fünf Mann Besatzung an Bord auf dem Bodensee notwassern. 

Trotz technischer und wirtschaftlicher Tiefschläge geht die Entwicklung weiter. Kolbus und Zeppelin haben etwas gemeinsam: Sie waren in Amerika. Zeppelin, der in Württemberg eine militärische Laufbahn eingeschlagen und ein Ingenieurstudium begonnen hat, nimmt einige Monate am Amerikanischen Bürgerkrieg (Sezessionskrieg 1861–1865) auf der Seite der Nordstaaten als Beobachter teil. Bei einem militärischen Einsatz eines Freiluftballons darf er mitfliegen. Dieses Erlebnis mit dem nur in Höhe und Tiefe lenkbaren, aber von der Windrichtung abhängigen Ballons löst bei Zeppelin den zündenden Funken zur Entwicklung von Starrluftschiffen mit Motoren, Stabilisierungsflossen, Heckruder und Führergondeln aus. Der Graf ist nicht der erste und letzte Entwickler von Starrluftschiffen, auch Konstrukteure in anderen Nationen bauten Ähnliches.

Ihr
Hans Joachim Laue, 
Fachjournalist im Ruhestand und Herausgeber «Tagebuch der Buchbinderei und Druckweiterverarbeitung» (5 Jahrhunderte in 5 Bänden)

Lesen Sie in der nächsten Woche mehr über Hans Müller und Kurt Stahl.

Das fünfbändige «Tagebuch der Buchbinderei und Druckweiterverarbeitung» können Sie beim Müller-Martini-Kunden BoD Book on Demand, Norderstedt (Deutschland), oder über jede andere Buchhandlung (stationär oder online) beziehen.