07.09.2021 / Hans Joachim Laue

Was für Zeiten… (Teil II)

Der 1943 geborene und seit einigen Jahren pensionierte Fachjournalist Hans Joachim Laue schaut in seinem im Selbstverlag herausgekommenen fünfbändigen «Tagebuch der Buchbinderei und Druckweiterverarbeitung» auf 500 Jahre grafisches Handwerk und Druckindustrie zurück. In zwei Blogs lässt er Sie einen Blick in sein wertvolles Nachlagewerk werfen und stellt dabei die Pioniere Friedrich von Martini, August Kolbus, Hans Müller und Kurt Stahl ins Zentrum. Ob Atombomben getestet werden oder ob Menschen die Füsse auf den Mond setzen, das hinderte Firmengründer nicht, eigene Wege zu gehen. So verbirgt sich auch hinter der Marke Müller Martini ein Pioniergeist in unterschiedlichen Facetten.

Bringen wir das in Erinnerung: Am 1. Februar 1972 wurde aus zwei guten Namen die Markenfamilie Müller Martini geformt. Doch hinter dieser Marke sind auch noch andere Persönlichkeiten verborgen, die in eigenwilligen Zeiten ihren Weg suchten und fanden. Im ersten Teil vor einer Woche berichtete ich Ihnen über Friedrich von Martini und August Kolbus. In zweiten Teil erinnern wir uns nun an Hans Müller und Kurt Stahl.
 
Hans Müller
Es war der Aufbruch in eine neue Zeit, als der 30-jährige Hans Müller (1916–2013) zusammen mit einem Kameraden aus der Wehrdienstzeit ab dem 1. April 1946 Unternehmer wurde. Das Computerzeitalter begann bei der US-Armee mit dem «Monstrum» ENIAC, die UN hielten ihre erste Vollversammlung ab, die Nürnberger Prozesse beschäftigten die Weltöffentlichkeit mehr als andere Themen, und VW begann mit der Serienproduktion des «Käfers» Geschichte zu schreiben.
 
Dass der Firmengründer Hans Müller ebenfalls eine Erfolgsgeschichte – von der Werkstatt bis zum Weltkonzern – erschaffen würde, war im Gründungsjahr weder geplant noch absehbar. Nach dem Studium hatte er als Ingenieur in der Industrie und als Fachlehrer an einer Berufsschule gearbeitet. Als ich ihn in seinem 80. Lebensjahr in einem Interview nach den Beweggründen zur riskanten Selbständigkeit so kurz nach Kriegsende befragte, antwortete er: «Sicher gehörte Ehrgeiz dazu und der Drang, etwas Neues, Besseres zu machen als das, was es bisher gab. Auch wollte ich das Gelernte in eigener Verantwortung ausprobieren, anwenden und etwas aufbauen. Im Rückblick kann ich feststellen, dass ich mich nie vor Problemen fürchtete, und deren gab es viele zu lösen.»
 
Im ersten Bestellbuch wurde am 6. März 1946 mit der Order-Nr. 1000 der Auftragseingang für ein Getriebe mit Keilriemenantriebsrad registriert, zu liefern bis 30. April 1946. Am 25. März 1946 wurde dann bereits unter den Nummern 1002 bis 1007 der Auftragseingang von sechs Heftmaschinen HM5 und einen Monat später mit der Nr. 1009 die Bestellung einer Heftmaschine HM40 erfasst (das Kürzel HM steht für Hans Müller). Die Lieferung von fünf Maschinen war auf Ende August und je eine auf Ende Mai und Juni terminiert. Während die HM5 für das Heften von Kartonagen eingesetzt wurde, war die HM40 für das Zusammenheften von Spanholzkisten bestimmt – beispielsweise für den Transport der Walliser Aprikosenernte.
 
Per Fahrrad, Bus und Bahn zu den Kunden
In einem Rundschreiben vom 7. Mai 1946 an alle Kartonagenfabriken preist die Firma Müller ihre im Fabrikationsprogramm an erster Stelle stehenden Flachheftmaschinen an. Im Kopf des Briefbogens ist die Geschäftstätigkeit mit «Karton- und Holzheftmaschinen / Getriebebau / Holzbearbeitungsmaschinen» eingedruckt.
 
Hans Müller war in den ersten vier Jahren alleiniger Konstrukteur und Verkäufer, manchmal auch Mechaniker und Monteur. Der Handel mit Holzbearbeitungsmaschinen war ein versuchtes zusätzliches Standbein. Im Getriebebau besass er Patente. Zu den Kunden fuhr er mit dem Fahrrad, per Bus und Bahn.
 
Als Druck-Auftraggeber kam er früh mit der grafischen Branche in Berührung und erkannte den technischen Rückstand. Das war für ihn die Herausforderung: Handarbeit zu vereinfachen oder zu ersetzen, zu mechanisieren und zu automatisieren. Mit der mittlerweile legendären Broschüren-Drahtheftmaschine B-1, die mehrere Jahrzehnte im Fabrikationsprogramm blieb, wurde noch im selben Jahr, also vor 75 Jahren, die Weiche in die Richtung der Druckweiterverarbeitung gestellt. Den technischen Wandlungsprozess dieser Bereiches prägte Hans Müller massgeblich.
 
1946: Atomtests
Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, aber die Schäden sind noch lange sichtbar. Nie wieder Krieg lautet es vielerorts. Wiederaufbau ist angesagt. Sofern es der Bürger überhaupt am Radio hört, in der Wochenschau sieht oder in der Tageszeitung liest, nach dem verheerenden Abwurf von Atombomben im August 1945 über die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki «schotten» sich Menschen in Mitteleuropa vor der Nachricht über Atomtests am Bikini-Atoll ab. Am 26. Juli 1946 erfolgt dort der zweite Atomtest. Die Bombe detoniert 30 Meter unter Wasser, befördert 2 Millionen Tonnen Wasser in die Luft und bildet eine weithin sichtbare, pilzförmige Explosion. Angeblich ist das Ziel der Testreihe «das Wohl der Menschheit und das Ende aller Weltkriege». Obwohl die Langzeitfolgen radioaktiver Strahlung noch nicht erforscht sind, wird die militärische Zwecktechnologie zur Erzeugung von Strom weiterentwickelt. Die Euphorie ist verflogen, aber die Probleme sind bis auf den heutigen Tag geblieben.    
 
Kurt Stahl
Als Stahl & Co. 1969 die Tochterfirma VBF Vereinigte Buchbindereimaschinenfabriken GmbH ins Leben rief, war die Marke Stahl in der grafischen Industrie gleichbedeutend mit Falzmaschinen. Kein Wunder, hatte man doch seit der Gründung durch Kurt Stahl (1910–1991) und Adolf Döpfert (1919–2007) am 1. Juni 1949 in Ludwigsburg bereits 10’000 Maschinen gebaut. Erst eine Woche vor der Firmengründung war das Grundgesetz des neuen Staates Bundesrepublik Deutschland verkündet worden, und die Währungsreform zur D-Mark hin war schon ein Jahr her.
 
Im ersten Firmendomizil, dem Elternhaus von Kurt Stahl, wurden zunächst grafische Maschinen repariert. Angeregt durch wiederkehrende Kundenwünsche begann der schwäbische Tüftler Kurt Stahl mit dem Entwurf einer Falzmaschine, die er auch eigenhändig baute. Quasi so nebenher, wie seine Tochter Margarete Stahl in der Chronik von 1979 festhielt, lief 1951 die Produktion von Falzmaschinen an und füllte eine Marktlücke, die der Firma einen steilen Aufstieg brachte. In den ersten Jahren waren es regionale Kunden. Entscheidend war dann die weltweite Nutzung des Vertriebs- und Servicenetzes der Heidelberger Druckmaschinen AG.
 
Ziel der 1969 gegründeten Tochterfirma VBF in Igersheim (heute ein Ortsteil von Bad Mergentheim) war es, Buchfertigungslinien zu liefern. Einzeltypen wie Einhänge- und Einpressmaschinen und Fliessdreischneider machten den Anfang, bevor 1972 die erste Buchfertigungslinie ausgeliefert werden konnte. Doch die Märkte für die Off- und Inline-Hardcover-Buchproduktion verlangten mehr, so dass sich Anfang 1995 Buchmaschinenhersteller aus der Schweiz, Italien und Deutschland in Lugano zum Synergieverbund BTG Book Technology Group mit weltweiter Verkaufs- und Serviceorganisation zusammenschlossen. Doch drei Jahre später löste sich dieser Verbund wieder auf. Müller Martini erwarb von Stahl die VBF-Buchtechnologie und erweiterte das Portfolio der Druckweiterverarbeitung mit Hardcover-Fertigungssystemen.    
 
1969: Mondlandung
In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1969 sitz auch ich – wie 500 Millionen Menschen auf der ganzen Welt – vor dem Fernsehgerät und verfolge die erste Mondlandung. Die Bildschirm-Diagonale ist im Vergleich zu heute gebräuchlichen TV-Geräten winzig. Von der Live-Übertragung sehe ich mittels Zimmerantenne schwarz-weisse, unscharfe, verzerrte Bilder. Es ist der Ehrgeiz der US-Amerikaner, den Vorsprung der sowjetischen Konkurrenz im All zu übertrumpfen. Der Apollo-11-Kommandant Neil Armstrong setzt seinen Fuss auf die Mondoberfläche und sagt den Satz: «A small step for a human, but a giant leap for mankind.» (Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit.) Derweil ist auch das Wettbewerbsdenken bei Stahl/VBF ein Motivationsgrund, 1969 in neue Gefilde vorzustossen.
 
Und die Moral von der Geschichte? Das ist doch wohl die, dass man in guten und schlechten Zeiten Ideen hat, dass man innovativ sein, Firmen gründen und Projekte starten kann. Sowohl für die kompromissbereite Realisierung als auch für die immerwährende Neuorientierung braucht es Mut, Mittel, Mitarbeitende und Märkte – nämlich Kunden wie Sie!
 
Ihr
Hans Joachim Laue,
Fachjournalist im Ruhestand und Herausgeber «Tagebuch der Buchbinderei und Druckweiterverarbeitung» (5 Jahrhunderte in 5 Bänden)
 
Das fünfbändige «Tagebuch der Buchbinderei und Druckweiterverarbeitung» können Sie beim Müller-Martini-Kunden BoD Book on Demand, Norderstedt (Deutschland), oder über jede andere Buchhandlung (stationär oder online) beziehen.