20.04.2021 / Rolf Steiner

Die virtual.drupa 2021 als digitales Take-away

Rolf Steiner (54) arbeitet seit 29 Jahren in der grafischen Branche und ist seit zwei Jahrzehnten Geschäftsführer der Vogt-Schild Druck AG in Derendingen (Schweiz). Warum er die drupa in Düsseldorf als Leuchtturm in der Druckindustrie so sehr vermisst und warum er die derzeit laufende virtual.drupa 2021 mit einem Take-away-Service vergleicht, schreibt er im folgenden Blog.
 
Seit 1995 habe ich fünf drupa besucht. Die beiden ersten Male war ich für meinen damaligen Arbeitgeber Müller Martini in Düsseldorf – danach drei Mal für die Vogt-Schild Druck AG, deren Geschäftsführer ich seit 2001 bin. Einmal musste ich leider aus gesundheitlichen Gründen passen.
 
Die drupa hat nicht nur für mich einen hohen Stellenwert, sondern auch für unser Unternehmen. Vor fünf Jahren besuchten wir die Messe während vier Tagen als Siebner-Team. Neben mir waren auch der Produktionsleiter und Abteilungsleiter sowie Leute aus dem Verkaufsinnendienst und dem Bereich Vorstufe/IT-System dabei. Wir repräsentierten so eine breite Palette von Mitarbeitenden aus den verschiedensten Bereichen unseres Unternehmens. Dass wir dafür jeweils extra nach Düsseldorf reisen müssen, stört mich nicht. Denn es ist es mir wert, diese Zeit zu investieren.
 
«Man findet, bevor man gesucht hat»
Für mich galt an der drupa seit jeher das Motto «Man findet, bevor man gesucht hat». Es ist, wie wenn ich mit meiner Frau durch eine Gewerbeausstellung flaniere, zufällig an etwas heranlaufe und es kaufe. An der drupa «kaufe» ich mir vor allem Zeit, um mich inspirieren zulassen und um nachzudenken.
 
Ich sehe da durchaus auch eine Analogie zu Printprodukten. Sie sollen – im Gegensatz zu digitalen Kanälen, wo oft gezielt nach einem Thema gesucht wird – ihre Leser mit Inhalten überraschen, die sie nicht erwartet haben. Und es gibt noch eine zweite Analogie: Wenn ich auf einer Messe bin, werden viele Sinne angesprochen: sehen, hören, fühlen – genauso wie wenn ich ein Buch oder Magazin in den Händen habe. Ich entdecke immer wieder etwas Neues. Insofern vermittelt die drupa nicht nur Trends, sondern sie öffnet auch neue Horizonte.
 
Eine grosse Familie in einer kleinen Welt
Und ich treffe natürlich Leute – jede Menge Leute. Neben den rein technischen Informationen der vielen Maschinenhersteller und Systemanbieter sind auf der drupa die vielen Gespräche unverzichtbar. Letztlich ist die grafische Industrie wie eine grosse Familie in einer kleinen Welt. Man trifft sich immer wieder, und da gehört Small Talk dazu – auf den Messeständen («Darf ich Ihnen etwas zeigen?») ebenso wie während des Mittagessens in einem drupa-Restaurant oder am Abend in der Düsseldorfer Altstadt. Es ist wie in der Politik: Gespräche ausserhalb des Plenarsaals sind eben oft wertvoller als die Debatten im Parlament.
 
Doch so wichtig der Meinungsaustausch mit Mitarbeitern, Experten von Lieferanten oder Berufskollegen auch ist: Ich liebe es auch, ganz alleine durch eine Messe zu schlendern, zu staunen und das Gesehene wirken zu lassen. Man muss die drupa einfach gern haben. Natürlich lege ich mir jeweils einen Plan zurecht, was ich auf der Messe alles sehen möchte. Doch die Hälfte meiner Zeit ist nicht strukturiert, sondern ich entscheide mich jeweils spontan, was ich mir anschaue.
 
Junge Berufsleute für unsere Branche begeistern
Wenn ich gelegentlich höre, solch grosse Messen wie die drupa hätten sich überlebt, erst recht in einer nicht mehr boomenden Branche wie der unseren, sie seien zu teuer für die Anbieter und für die teils von weit anreisenden Besucher, dann kann ich diese Bedenken nur sehr beschränkt teilen. Klar verstehe ich dies aus Sicht der Hersteller – erst recht als ehemaliger Müller Martini-Mitarbeiter. Trotzdem bin ich überzeugt, dass auch grosse Messen wie die drupa weiterhin ihre Berechtigung und Bedeutung haben. Denn nirgends findet man so viele Experten, mit denen man sich über die verschiedensten Facetten unserer Branche austauschen kann.
 
Für mich kommt ein weiterer wichtigster Aspekt hinzu – derjenige der Aus- und Weiterbildung. Es ist wichtig, junge Berufsleute für unsere Branche zu begeistern. Und dafür ist eine Messe meiner Ansicht nach der ideale Platz, denn sie weckt und fördert die Faszination für die Druckindustrie.
 
Wir brauchen diesen Leuchtturm
Allerdings bin ich durchaus der Meinung, dass es die grossen Monster-Anlagen wie riesige Rollenoffset-Druckmaschinen oder alle Arten von Falzmaschinen an der drupa nicht mehr braucht. Deshalb gefallen mir die Hunkeler Innovation Days in Luzern so gut, wo ich auf kompaktem Raum einen schnellen Überblick über die neuste Technologie unzähliger Anbieter gewinnen kann. Natürlich ist ein Stand nur dann interessant, wenn die eine oder andere Maschine zu sehen ist – denn ein Monitor mit einer simplen PowerPoint-Präsentation reicht mir nicht.
 
Falls Sie mich fragen, was mir und unserer Branche fehlen würde, wenn es die drupa nicht mehr gäbe, dann wäre meine Antwort klar: alles! Wir brauchen diesen Leuchtturm und würden, sollte es sie nicht mehr geben, schlicht Gefahr laufen, dass unser Industriezweig vergessen geht.
 
Unsere Branche darf nicht vergessen gehen
 
Bei all meiner Begeisterung für die Vor-Ort-Veranstaltung verstehe ich natürlich die drupa-Organisation, dass sie – sicherlich auch aus finanziellen Gründen – mit der virtual.drupa 2021 eine alternative Messeform anbietet. Denn es ist, wie bereits erwähnt, klar: Unsere Branche darf nicht acht Jahre lang komplett weg vom drupa-Fenster sein und damit vergessen gehen. Es ist ähnlich wie ein Restaurantbesitzer, der während des Lockdowns einen Take-away-Service anbietet. Das grosse Geschäft macht er damit nicht, aber seine Kunden vergessen ihn wenigstens nicht.
 
Trotzdem: Wie viel ich mir von der virtual.drupa 2021 anschauen werde, ist noch offen. Ich kämpfe mich immer noch durchs Programm. Zudem habe ich derzeit beruflich einiges um die Ohren. Das ist ja das Problem bei Webinaren: Wenn ich an die drupa nach Düsseldorf gehe, melde ich mich für vier Tage in der Firma und vom Tagesgeschäft ab. Online-Veranstaltungen hingegen lenken vom Tagesgeschäft ab. Ich habe immer das Gefühl, ich sollte eigentlich etwas Wichtigeres machen. Ich finde ohnehin, dass es derzeit einen Webinar-Overkill gibt. Deshalb nehme ich nur an wenigen teil und schaue lediglich dann rein, wenn ich mir einen echten Mehrnutzen verspreche. Ich will die Leute lieber live sehen – denn der Mensch ist analog, und auch Maschinen sind analog.
 
Unsere Kunden brauchen persönliche Beratung
Meinen Mitarbeitenden empfehle ich, die für ihren Arbeitsbereich relevanten Veranstaltungen der virtual.drupa 2021 zu besuchen. Insbesondere für unsere Mitarbeiter, die – beispielsweise in der Vorstufe – mit Software zu tun haben, sind Präsentationen am Bildschirm durchaus wertvoll.
 
Insofern macht die digitale Transformation natürlich auch in unserem Unternehmen nicht Halt. Für abstrakte, emotionslose Sitzungen, an denen keine Kreativität erforderlich ist, macht ein ZOOM-Call ohne grosse Anreise durchaus Sinn. Und der digitale Workflow ist natürlich auch bei uns seit Längerem ein Thema. Doch virtuelle Kontakte haben auch viele Nachteile. So brauchen die Kunden in unserem Geschäft persönliche Beratung, denn sie kaufen die Produkte nicht ab Stange – womit wir wieder beim Faktor Mensch wären.
 
Insofern hoffe ich, dass dies die letzte digitale drupa ist – ich möchte in meiner beruflichen Karriere gerne noch zwei Messen live in Düsseldorf miterleben!
 
Ihr
Rolf Steiner
Geschäftsführer Vogt-Schild Druck AG, Derendingen (Schweiz)

Hier erfahren Sie mehr über die Müller Martini-Highlights an der virtual.drupa 2021 
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