08.06.2021 / Knud Wassermann

TikTok – ein digitaler Buchklub

Unter dem Hashtag #BookTok posten Jugendliche auf TikTok Buchempfehlungen. Damit hauchen sie selbst längst vergessenen Büchern neues Leben ein – und sorgen im besten Fall sogar für eine Neuauflage.
 
Ich muss gestehen, dass ich die Bedeutung von Social Media vollkommen unterschätzt habe. Mittlerweile ist LinkedIn im Redaktionsalltag fest verankert, und wir bauen gerade unseren Instagram-Account weiter aus. Dadurch ist es uns gelungen, die Verzahnung der verschiedenen Online-Kanäle zu verbessern und die Sichtbarkeit des gedruckten Magazins zu steigern. Wobei ich davon ausgegangen bin, dass zwei Kanäle fürs Erste einmal ausreichen müssten.
 
Tipp von der 13-jährigen Tochter
Zwar habe ich den Hype um TikTok registriert – allerdings war ich guter Dinge, dass er an mir vorübergehen wird. Doch weit gefehlt, denn unter dem Hashtag #BookTok werden Literaturempfehlungen gepostet, die für die Verkaufszahlen von Büchern durchaus relevant sein können. Also habe ich meine 13-jährige Tochter gebeten, mich in die TikTok-Welt einzuweihen.
 
Auf der Plattform befinden sich Millionen und Abermillionen von maximal 60 Sekunden langen Videoclips, die oft mit Musik und Dialogen unterlegt sind. Teenager versuchen mit Tanzschritten, Modetipps, Kochrezepten möglichst viele Likes zu ergattern. Darüber hinaus nutzen junge Leser(innen) TikTok wie einen digitalen Buchklub, um ihre literarischen Favoriten zu teilen. Jetzt verstehe ich auch, warum mir meine Tochter schon öfters zu verstehen gegeben hat, dass ich oldschool bin.
 
Ein Ritterschlag unter BookTokern
Bei #BookTok steht nicht der Inhalt, sondern vielmehr die Emotion, die das Buch auslöst, im Vordergrund. Ein Beispiel dafür liefert etwa @aymansbooks. Ayman Chaudhary hält das Buch «Das Lied des Achill» in die Kamera und sagt mit einem breiten Lächeln: «Hey, das bin ich am ersten Tag, an dem ich das Buch lese.» Am Schluss ist die junge Frau vollkommen aufgelöst, weint und schreit in das Mikrofon: «Und so beende ich es!». Und sie schleudert das Buch in die Ecke des Zimmers, was unter BookTokern als Ritterschlag gilt.
 
Aktuell folgen @aymonsbooks über 223’000 Menschen – und es werden jeden Tag mehr. Seine emotionale Wirkung hat das Video nicht verfehlt. Der Roman von Madeline Miller erschien bereits 2012. Jetzt verkauft sich das Buck laut NPD BookScan zehnmal so oft wie bei seiner Erstauflage, und im März 2021 stand es bei der «New York Times» auf Platz 3 der Bestsellerliste für Taschenbücher.
 
Unerwartete Steigerungen bei den Verkaufszahlen
Einige der berühmtesten BookToker werden ganz gezielt von den Verlagen oder Autoren mit Lesestoff gefüttert. Der Einfluss der Literaturempfehlungen auf den Buchmarkt ist so gross, dass die amerikanische Buchhandlung Barnes & Noble in einigen Filialen Büchertische für aktuelle BookTok-Bestseller eingerichtet hat und auf ihrer Website eine Bestenliste führt. Auf Instagram etwa gibt es schon seit längerer Zeit eine buchaffine Community, die sich abseits des Feuilletons über Neuerscheinungen austauscht.
 
Einen eigenen Verkaufstisch konnte sich bisher keine andere Social-Media-Plattform sichern. «BookToker haben keine Angst, offen und emotional über die Bücher zu sprechen, wodurch sie sich mit der Community sofort verbinden», sagt Shannon DeVito von Barnes & Noble. Das führe teilweise zu unerwarteten Steigerungen bei den Verkaufszahlen.
 
#BookTok lebt von der Dynamik der Plattform – jede und jeder kann ein Video hochladen, Beiträge kommentieren, Herausforderungen annehmen. En vogue sind auch Videos im Zeitraffer, die BookToker beim Lesen oder beim Flanieren durch eine Bibliothek oder ein Antiquariat zeigen, oder das Festhalten des Auspackmoments einer Buchlieferung aus dem Online-Handel. Aber auch die Ausstattung eines Buches mit einem veredelten Cover, einem farbigen Buchkartendruck oder speziellen Karten zum Sammeln wird zum Thema und somit zum Kaufkriterium.
 
Die Verkaufsmaschinerie springt an
BookToker sind grossteils weiblich. In ihren Videos geht es meist um sogenannte Young-Adult-Bücher. Titel wie «Eragon» oder «Die Tribute von Panem» also. John Adamo, Marketingleiter bei Random House Children’s Books, meinte gegenüber der «New York Times», dass das Unternehmen aktuell mit etwa 100 TikTok-Bloggern zusammenarbeitet. Sobald ein Titel auf TikTok Erfolg hat, so Adamo, springt die komplette Verlagsmaschinerie mit Werbung, Lesungen und alles, was dazugehört, an.
 
Auch die ersten europäischen Verlage sind bereits auf TikTok präsent, etwa der auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisierte Loewe Verlag. «Eigene kreative und speziell für TikTok konzipierte Videos sind bereits Teil unserer Strategie», sagt Nicolai Lindner, Leiter des Bereichs Online-Marketing & PR. Auch der Londoner Verlag Penguin ist davon überzeugt, dass die App für Marketingkampagnen zunehmend relevanter wird. Eine Testkampagne im New-Adult-Bereich habe das Potenzial aufgezeigt.
 
Das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien sieht in der App ein gutes Werkzeug zur Leseförderung. Die BookTok-Community spreche vor allem leseaffine Jugendliche an und solche, die sich mit kurzen Videoclips ausdrücken wollen. «Junge Menschen, die gar keinen Draht zum Lesen haben, kann man über die Plattform TikTok kaum zu Leseratten machen», meint die Expertin für literale Förderung Aleta-Amirée von Holzen.
 
Trotzdem: Das Internet und die sozialen Medien sind die Orte, wo man die Jugendlichen abholen und vielleicht auch fürs Lesen gewinnen kann. Es einfach einmal auszuprobieren, ist mit Sicherheit kein Fehler!
 
Ihr
Knud Wassermann,
Chefredakteur «Graphische Revue»