10.01.2023 / Knud Wassermann

Die Zeitenwende in der Endlosschleife

Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte «Zeitenwende» zum Wort des Jahres 2022. Wenn man sich in der Druck- und Medienbranche bewegt, hat man eher das Gefühl, dass die Zeitenwende spätestens mit der Verbreitung des Internets in der Mitte der 1990er-Jahre eingeläutet wurde und niemals aufgehört hat. In den letzten drei Jahrzehnten ist so gut wie kein Stein auf dem anderen geblieben, was aber den Vorteil hat, dass wir als Branche gelernt haben, mit diesem ständigen Veränderungsdruck umzugehen. In der aktuellen unübersichtlichen Gemengelage ist allerdings die Planbarkeit noch weiter verloren gegangen, was eine Einschätzung, wie es 2023 und darüber hinaus für die Druck- und Medienbranche weitergehen wird, nicht gerade erleichtert. Wir wagen trotzdem einen Ausblick.
 
Was war das für ein Jahr – 2022? Nach wie vor durch eine Pandemie geprägt mit den schon oft angeführten Begleiterscheinungen – wie etwa gestörten Lieferketten und Versorgungsengpässen, welche die globale Wirtschaft ordentlich ins Wanken brachten. Während im zweiten Halbjahr weltweit die Beschränkungen gelockert wurden, hielt China bis Anfang Dezember an der Null-Covid-Strategie fest, was nicht wirklich zur Entspannung beitrug. Ganz im Gegenteil: Die Rohstoff- und Logistikkosten gingen noch weiter durch die Decke, und das Wort Versorgungssicherheit verlor weitgehend seine Bedeutung.
 
Schockwellen in der Wirtschaft
Am 24. Februar wurde, aus einem über Jahre hinweg schwelenden Konflikt heraus, von Russland ein Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet. Neben all dem verursachten menschlichen Leid hat die kriegerische Auseinandersetzung weitere massive Schockwellen in der Wirtschaft und im Speziellen in der Energiebranche ausgelöst. Im Zuge dessen schossen die Preise für alle Energieträger in astronomische Höhen, was gerade energieintensive Branchen wie etwa die Papier- und auch Druckindustrie besonders zu spüren bekamen.
 
Das Resultat ist eine Inflation, die in einzelnen Monaten die Zehn-Prozent-Grenze überschritten hat und uns wahrscheinlich noch längere Zeit erhalten bleiben und in allen Branchen ihre Spuren hinterlassen wird. Im Bereich der grafischen Papiere führte dies in den letzten Monaten zu einer sinkenden Nachfrage – was nach dem Ausstieg von grossen Einzelhandelsketten wie REWE, OBI und anderen auch absehbar war.
 
Das Blatt wendet sich – die Nachfrage bricht ein
Nach dem ersten pandemiebedingten Lockdown war die Nachfrage nach Papier grösser als das Angebot. Da niemand absehen konnte, wohin sich der Markt bewegt, wurde alles gekauft, was zu haben war, und die Lager wurden bis zum Bersten gefüllt. Jetzt hat sich das Blatt gewendet, und der Papierabsatz ist massiv eingebrochen. Die Zahlen sprechen für sich: Das Absatzvolumen in Europa ist beim Vergleich der Monate November 2021 und November 2022 bei gestrichenen Papieren um 42 Prozent und bei ungestrichenen Papieren um 21 Prozent gefallen. Es scheint so, dass jetzt einmal die Lagerbestände aufgebraucht werden und die Druckindustrie bei ihren Bestellungen noch längere Zeit zurückhaltend agieren wird. Branchenexperten rechnen damit, dass frühestens 2024 die Talsohle durchschritten wird und Nachfrage und Angebot wieder einigermassen ins Lot kommen werden. Mit Sicherheit wird damit ein grosses Minus verbunden sein.
 
Wobei – Hand aufs Herz: Die Nachfrage nach grafischen Papieren ist schon seit vielen Jahren rückläufig. Seit 2011 ging der Verbrauch von grafischen Papieren alleine in Europa von 25,5 auf 15,5 Millionen Jahrestonnen zurück. Das entspricht rund 40 Prozent. Die freigewordenen Kapazitäten wurden auf die Produktion von Verpackungspapieren umgerüstet. Dieser Trend wird weiter anhalten, denn im Rahmen der ganzen Nachhaltigkeitsdebatte haben Papier und Karton die besseren Karten gegenüber Kunststoffverpackungen.
 
Print braucht eine starke Lobby
Vor diesem Hintergrund ist die Printwerbung noch weiter unter Druck geraten. Der Ausstieg von OBI und REWE aus der Prospektwerbung war sicherlich nur die Spitze des Eisbergs. Wobei Print nicht der einzige Kanal ist, der von den massiven Veränderungen in der Mediennutzung betroffen ist. Die «Generation X» oder «Alpha» hat sich etwa längst vom Fernseher verabschiedet und tummelt sich fast ausschliesslich auf Streaming- oder auf Social-Media-Plattformen. Die gesamte Medienlandschaft erlebt einen dramatischen Umbruch, und jeder einzelne Kanal muss sich neu positionieren und seine Stärken in die mediale Waagschale werfen.
 
Schulterschluss für Print
Alleinstellungsmerkmale hat Print zweifelsohne, die auch schon hinlänglich bekannt sind – Haptik, Wertigkeit, Reichweite, Mehrfachnutzung, Nachhaltigkeit, Personalisierung und Individualisierung. Um die unumstrittenen Vorteile von Print zu kommunizieren, braucht es aber einen Schulterschluss aller Stakeholder – Verbände, Organisationen, Unternehmen, Medien – über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Darüber hinaus müssen Druckereien ihren USP erkennen und ihn in eine Marketing- und Kommunikationsstrategie giessen, auf der dann das Storytelling in den unterschiedlichsten Kanälen aufgebaut werden kann.
 
Die Diskussion über die Wertigkeit der einzelnen Kanäle sollte auf keinen Fall einseitig geführt werden. Denn Print und Digital können sich gegenseitig ergänzen und sogar voneinander profitieren, was gerade bei plattformübergreifenden und verzahnten Kampagnen sichtbar und sogar messbar wird. Ein weiteres Phänomen ist, dass Social-Media-Kanäle beispielsweise den Absatz von Büchern ankurbeln können. Unter dem Hashtag «BookTok» posten Jugendliche auf TikTok ihre Buchempfehlungen, was sich auch in den Verkaufszahlen im Buchhandel niederschlägt. Und aus der Nutzung digitaler Tools entstehen neue Printapplikationen, die ohne das Internet niemals zu Papier gebracht worden wären. Dazu gehören etwa Apps, die Fotos gekonnt für den Druck eines Fotobuchs zusammenstellen, oder das Drucken von Büchern mit kompletten WhatsApp-Threads (Kommentarspalten) und «FreePrints» von Planet Art, wo kostenlose Fotoabzüge erstellt werden können, nur um den Kunden an die Plattform zu binden.
 
Auflage 1 ist kein frommer Wunsch mehr
Dank der Automatisierung, des Digitaldrucks, des Einsatzes von netzbasierten Design-Editoren und Bestellplattformen ist der individualisierten Massenfertigung Tür und Tor geöffnet. Auflage 1 ist kein frommer Wunsch mehr, sondern in vielen Bereichen gelebte Realität. Durch diesen extremen Individualisierungsgrad entstehen Printprodukte, die sich durch ihre Exklusivität vom Standard abheben. Typische Anwendungen sind hier etwa Fotobücher, Self-Publishing-Bücher, Independent-Magazine oder Limited Editions. Die Technik dafür ist heute vorhanden. Was hingegen oftmals fehlt, sind Ideen und Konzepte für die Schaffung neuer Geschäftsmodelle – die kommen meistens von Quereinsteigern.
 
Natürlich werden heute nach wie vor weit über 90 Prozent des Druckvolumens mit analogen Verfahren produziert, aber die Umschichtung in den Digitaldruck beginnt jetzt erst so richtig. Die Fortschritte im Digitaldruck und hier vor allem im Inkjet-Druck sind enorm und erweitern das Anwendungsspektrum massgeblich. Digitale Veredelungstechniken sorgen für entsprechende Wow-Effekte, vor allem dann, wenn man sie mit einem Personalisierungsansatz kombiniert. Hersteller von Maschinen folgen diesen Trends, was sich auch in der Produktentwicklung widerspiegelt. So kündigte Müller Martini vor Kurzem die SigmaLine Compact für die digitale Buchblock-Fertigung an, die gerade mit digitalem Rollendrucksystem zur Höchstform auflaufen soll. Aber auch für die komplett umfang- und formatvariable Herstellung von Fotobüchern hat Müller Martini eine Lösung im Programm, die schon mehrfach ihre Praxistauglichkeit unter Beweis gestellt hat.
 
Print – ein hochwertiger Touchpoint
Es sind jedoch nicht nur Individualisierung und Personalisierung, die Print zu etwas Speziellem machen. Eine gedruckte Einladung, ein opulenter Bildband oder ein durchgestyltes Magazin vermitteln eine Wertigkeit, der man sich nur schwer entziehen kann. Bei der Gestaltung und Umsetzung hochwertiger Druckprodukte kann man heute aus dem Vollen schöpfen und Botschaften gekonnt in Szene setzen. Die Kombinationsmöglichkeiten von edlen Papieren, speziellen Farben, Lacken, hauchdünnen, schillernden Folien, unterschiedlichen Druckverfahren, ausgefallenen Bindearten sowie analogen und digitalen Veredelungsverfahren sind unendlich.
 
Mit all diesen Zutaten kann sich Print als hochwertiger Touchpoint in der Customer Journey positionieren. So erklärt sich vielleicht auch, dass der deutsche Bekleidungshändler Adler nach 14 Jahren wieder einen gedruckten Katalog mit einem spannenden Vertriebskonzept aufgelegt hat. Zum Release wurde der Adler-Katalog zuerst an Kund(inn)en mit einer Kundenkarte zugestellt und verteilt. Zusätzlich wird der Katalog bei Online-Bestellungen mitgeliefert. So sorgt man beim wichtigsten Moment im Online-Handel – dem Auspackerlebnis – für mehr Präsenz.
 
Das Thema Nachhaltigkeit ist sowieso ein Dauerbrenner. Auf diesem Gebiet ist in der Papier- und Druckindustrie in den letzten Jahren schon vieles passiert. Allerdings dürfen die Anstrengungen in dieser Richtung nicht nachlassen. Aktuell geht es darum, die Papier- und Druckindustrie als Teil einer umfassenden Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Cradle to Cradle (C2C) ist hier sicherlich ein interessanter Ansatz, der auch in anderen Branchen bereits verfolgt wird. Ein Beispiel ist der Bekleidungshersteller Wolford, der nach C2C zertifiziert ist und sich daher auch dementsprechende Verpackungen und gedruckte Kommunikationsmittel erwartet.
 
Fazit
An der Entwicklung des Papierabsatzes zeigt sich, dass Druckvolumen verloren gegangen ist. Und das wird mit grosser Sicherheit auch nicht mehr zurückkommen. Insofern wird der gedruckte Kuchen kleiner, gleichzeitig steigt aber die Wertigkeit von Print im Mediamix. Ganz nach dem Motto «Weg von der Masse, hin zur Klasse». Deshalb ist es auch wichtig, neue Geschäftsmodelle für Print zu entwickeln. Technik ist wichtig, vor allem vernetzte Technik, aber erst im zweiten Schritt.
 
Erfolgreiche Geschäftsmodelle gibt es auch in der Druckindustrie: Viele davon schaffen es in Verbindung mit Internet und Social-Media-Kanälen, kreative und individualisierte Druckprodukte zu fertigen, die einen Mehrwert liefern.
 
Zum Abschluss noch ein Zitat von Albert Einstein, das absolut in die Zeitenwende passt: «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.» Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wir Print neu denken müssen!
 
Ihr
Knud Wassermann,
Chefredakteur «Graphische Revue»
 
10.01.2023 Knud Wassermann Chefredaktor «Graphische Revue»