29.03.2022 / Hans Joachim Laue

Bildungswissen heute und einst

Besitzen Sie ein Lexikon? Nein. Weil Sie mit der Zeit gehen? Wissensfragen beantwortet Ihnen doch schnell das Internet. Online-Enzyklopädien gibt es in unendlicher Zahl und in vielen Sprachen. Aber genügt dieses lexikalische Wissen, das man Allgemeinbildung nennt, auf elektronischen Plattformen? 

Vom bekannten deutschen TV-Moderator Günther Jauch (Jahrgang 1956) soll die Aussage stammen, dass Bildung sich nicht downloaden lasse. Dabei ist nicht erst jetzt in den zwei Jahren der Covid-19-Pandemie von «digitaler Bildung» die Rede. Und dass in dieser Zeit der Corona-Beschränkungen manche Mängel zutage treten – nicht nur an Schulen und Ämtern. Aber was ist «digitale Bildung»?

Home-Schooling, Home-Entertainment, Home-Office
Das beschränkt sich nicht auf die Anschaffung von Personal Computern, Tablets oder Smartphones oder auf die Fähigkeit, im Onlineshop bestellen zu können. Digitalisierung ist in allen Lebensbereichen anzutreffen. Jedermann ist davon betroffen – egal ob jung oder alt, beruflich oder privat. Home-Schooling, Home-Entertainment und Home-Office sind in die Alltagssprache vorgedrungene Begriffe. Sie sind vor allem (Ersatz-)Handlungen, bei denen unterschiedlich versucht wird, den Anforderungen von Gesellschaft und Wirtschaft gerecht zu werden. 

Das hat zur Folge, dass der Internet-Datenverkehr bei Corona-Beschränkungen für massiven Zuwachs sorgt, folglich auch beim Stromverbrauch – mit Nachfrage nach regenerativen Energien. Vor allem aber zählt das Fachwissen des digitalen Marktes. Wer sich digitale Bildung erwirbt, selbständig neue Software schreiben, sich in Betriebssystemen auskennt oder hineindenken kann, IT-Management und -Sicherheit beherrscht, hat Teilhabe-Voraussetzungen im heutigen Berufsleben der medialen Welt. Prädestiniert dafür sind die «digitalen Eingeborenen» oder auf Neudeutsch: die «Digital Natives». Oder anders formuliert: Personen der Generation, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind und noch aufwachsen.

«Digital Natives», «Printing Natives»
Ganz ohne «Begleittexte» in gedruckter Form wird jedoch auch die Generation der «Digital Natives» nicht auskommen. Um eine Medienrevolution nachhaltig zu festigen, bedarf es der Didaktik. Fernunterrichtsstudenten und Berufslehrlinge des 20. Jahrhunderts haben Erfahrung mit didaktisch gut aufbereiteten Lehrstoffen in gedruckter und gebundener Fassung gewonnen. Und jene des 21. Jahrhunderts gewinnen empfehlenswert mit nachschlagbaren Anleitungen auf Papier, wie sie den Unterricht für Aus- und Weiterbildung auf elektronischen Medien «gehirn- und prüfungsfähig» aufnehmen können. Auf diesem Wege würde man auch den Grundschülern und Gymnasiasten im Home-Schooling vorteilhaft helfen.

Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, verfasste das Buch «Die Druckmacher», das Anfang dieses Jahres in den Buchhandel kam. Darin beschreibt er, wie die «Generation Luther» die erste Medienrevolution entfesselte. Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks allein reichte nicht aus, um die Welt zu verändern. Das gleisten nämlich die ersten «Printing Natives» auf. Zu ihnen kann man zum Beispiel den Drucker Manutius (1449–1515), den Humanisten Erasmus (1466–1536), den Grafiker Dürer (1471–1528) sowie die Theologen Luther (1483–1546) und Zwingli (1484–1531) zählen. 

Sie nutzten die Drucktechnik für ihre Zwecke, auch mittels Diffamierungen, die nicht immer über allen Dingen erhaben waren (quasi «Fake News» des 16. Jahrhunderts). Mit Flugblättern und Traktaten machten sie auf sich aufmerksam und «vermarkteten» ihre Anliegen. Diese Medienrevolution und Religionsreformation stellte nicht nur einen tiefgreifenden Kulturwandel dar, sondern auch einen Umbruch auf breiter Basis. 

Wahrnehmung durch Enzyklopädien
Einen Umbruch erleben auch wir Zeitgenossen seit über 20 Jahren. Denn so alt ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia schon. Eine Erfolgsgeschichte sondergleichen, wenn man als Gradmesser die meistaufgerufenen Seiten im Internet nimmt – und dies in rund 300 Sprachen. Ein Gradmesser ist aber auch die negative Folge, dass nämlich die angesehensten, klassisch produzierten Konversationslexika dieser Welt ihr Erscheinen eingestellt haben. 

Die 21. Auflage des 30-bändigen, 70 Kilogramm schweren, im Regal 1,5 Meter Länge beanspruchenden Brockhaus von 2005 war definitiv die letzte. Der Verleger Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1823) brachte eine Enzyklopädie unter seinem Namen erstmals 1809 in acht Bänden heraus. Brockhaus gilt nicht als Erfinder der Enzyklopädie, aber er ist einer der bekanntesten Verleger dieser Art. Bildungswissen war das Ziel der Lektüre des Lexikons, damit der Mensch an einer guten Konversation teilnehmen und Buchinhalte verstehen könne. Zudem sollten die «encyclopedic user» sich mit der Welt vertraut machen, die über dem alltäglichen Horizont läge.

Wenn neue Herausgeber in die Bresche springen
Seit 2005 wird – ein anderes Beispiel – das «Oxford DNB», bekannt seit 1885, online updatet und ergänzt. Dabei ist dieses «Oxford Dictionary of National Biography», ein Mammutwerk von 60 Bänden mit etwa je 1000 Seiten, mit insgesamt 55’000 Biografien in einer Auflage von 5000 Exemplaren, im Herbst 2004 zum letzten Mal in dunkelblauem Leinen gebunden worden. Alle Bände, die im Bücherregal vier Meter Länge beanspruchen, sind komplett an einem einzigen Tag der Öffentlichkeit vorgestellt worden – ein Novum bei mehrbändigen Enzyklopädien. Das Papier für die total 300 Millionen Seiten lieferte eine schweizerische Papierfabrik an die englische Druckerei.

Für den «Fischer Weltalmanach», eine Institution in der alten Bundesrepublik Deutschland, endete mit der Ausgabe 2019 eine 60-jährige Epoche. Damit schien im deutschsprachigen Raum das einst so stolze Genre der gedruckten Enzyklopädie endgültig am Ende zu sein. Doch mitnichten. Der Franckh-Kosmos Verlag ist in die Bresche gesprungen und startete mit der Ausgabe 2021 eine jährliche Herausgabe des Taschenbuchs im neuen Layout und mit reicherem Inhalt unter dem Titel «Der neue Kosmos Welt-Almanach & Atlas».

Und sonst?
Bildungswissen im Internet zu erwerben, ist mühsamer, als man glaubt. Stets ist die Spreu vom Weizen zu trennen. Für Lehrmittel und Lexika übernehmen in der Regel professionelle Experten die selektive Aufbereitung. Das schliesst nicht aus, dass die Redaktionen der Online-Enzyklopädien die Sache ähnlich anpacken. Meines Erachtens sind jedoch komprimierte Formen zu bestimmten Themen in Printeditionen einfacher handhabbar, wie beispielsweise mein herausgebrachtes «Tagebuch der Buchbinderei und Druckweiterverarbeitung». 

Zugegeben, ich bin ein «Printing Native» und zugegeben, hierfür waren und sind so manche Informationen aus Internet-Quellen bei der Ausarbeitung behilflich. Und von den Geschichten aus 500 Jahren gewinnen möglicherweise Entwickler, Verleger, Drucker und Buchbinder die eine oder andere Anregung für eigene Geschäftsideen.

Auch einen Gewinn an Anregungen stellt das Aufsuchen der Bouquinistes entlang des Seineufers von Paris dar. Wenn die Pandemie ausklingt, sollte man diesen Buchantiquariaten unbedingt einen Besuch abstatten. Auch auf die «Gefahr» hin, dass dort der Kauf von Trouvaillen ein Loch in der Reisekasse hinterlässt. Was man hier aus vergangenen Zeiten entdecken kann, nicht nur Werke in französischer Sprache, ist einfach wunderbar. Allein schon die visuellen und haptischen Erlebnisse könnten sogar «Digital Natives» ins Schwärmen bringen. 

Gehen Sie auf Entdeckungsreise!
Es heisst ja, Reisen bilden. Insofern wird dadurch reales Bildungswissen erworben. Hochinteressante Reiseziele sind ebenso Bücherdörfer in den entlegensten Gegenden der Welt. Um sie zu finden, kommt man kaum herum, ihretwegen zu googeln. Ein Buchdorf ist eine Ortschaft mit wenigen Einwohnern, aber mit verhältnismässig vielen Buchantiquariaten – quasi Bücher als touristische Fördermassnahme für eine wirtschaftliche Perspektive. Das erste Buchdorf wurde 1961 in Wales ins Leben erweckt worden. 

Also: Gehen Sie auf Entdeckungsreise, so oder so. Aber auch Besuche in regionalen Buchhandlungen und -antiquariaten überraschen mit Bildungswissen. 
 
Ihr
Hans Joachim Laue, 
Fachjournalist im Ruhestand und Herausgeber «Tagebuch der Buchbinderei und Druckweiterverarbeitung»; 2021 sind Band 1–3, 16.–18. Jh., erschienen; im Februar 2022 Band 4 19. Jh., 240 Seiten, 175 Abb.; Band 5 wird das 20. Jh. beinhalten. Zu beziehen beim Müller-Martini-Kunden BoD Book on Demand, Norderstedt (Deutschland), oder über jede andere Buchhandlung (stationär oder online).

Lesen Sie von Hans Laue auch die beiden Blogs «Was für Zeiten…», Teil I und Teil II