22.02.2022 / Reto Jäggi

Dank Bachelorarbeit zur technischen Innovation

Stellen Sie sich Folgendes vor: Druckprodukte – sie können verschieden oder alle gleich sein – laufen über eine Förderstecke. Es ist kein Barcode oder eine sonstige Identifikation aufgedruckt, die eingescannt werden könnte, um uns zu sagen, um welches Produkt es sich handelt. Wie kann ich diese Druckprodukte nun mit einem möglichst kostengünstigen System auf einer beliebigen Förderstrecke verfolgen und tracken?

Eine interessante und anspruchsvolle Problemstellung, die uns seit einiger Zeit in der Entwicklungsabteilung bei Müller Martini beschäftigte. Da es sich nicht um eine dringende Kundenanfrage handelte und wir keine zeitnahe Lösung benötigten, schien mir dies ein ideales Thema für eine Bachelorarbeit zu sein. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Betreuer von Studien-, Bachelor- und Masterarbeiten, die wir gemeinsam mit Hochschulen durchführen, weiss ich, dass das ein wichtiges Kriterium für die Themenvergabe ist. 

Man darf auf keinen Fall unter Zeitdruck stehen. Denn bei einer Abschlussarbeit kann es bis zu sechs Monate dauern, bis ein erstes Ergebnis vorliegt. Und die vorgestellte Lösung ist ja dann oft noch lange nicht marktreif, da den Studierenden neben der Zeit auch die Praxiserfahrung in der Produktentwicklung fehlt, wie Wissen zu Kostenoptimierungen, Herstellverfahren oder Synergien mit bestehenden Produkten. 

Teamarbeit
Mit oben erwähntem Projekt wandten wir uns an die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), die das Thema als Bachelorarbeit ausschrieb. An der dortigen Hochschule für Technik haben geschätzt 95 Prozent der Abschlussarbeiten einen Projektkontext mit Industriepartnern. Die Studierenden können sich für eine Aufgabe bewerben und werden über einen Matching-Algorithmus zugeteilt. In unserem Projekt mit dem Namen «Optische Produktverfolgung» wurde der Informatik-Student Mike Nöthiger mit einem weiteren Informatiker, Marco Waldmeier, und dem Systemtechniker Dominik Gremaud gematcht. «Für uns war es ein Glücksfall, denn so hatten wir für die Problemlösung nicht nur das IT- und Programmier-Know-how, sondern auch das Wissen zum technischen Aufbau der Ausrüstung mit im Boot», kommentierte Mike Nöthiger den Entscheid.

Was die Erfolgsfaktoren für eine gute Bachelorarbeit betrifft, die auch dem Industriepartner einen hohen Nutzen bringt, stimme ich mit Prof. Dr. Christoph Stamm, Forschungsleiter am Institut für Mobile und Verteilte Systeme und Dozent für Informatik an der FHNW, überein. «Für eine gut funktionierende Zusammenarbeit ist es wichtig, dass der Industriepartner seine Wünsche und Anforderungen möglichst präzise schriftlich festhält und die Anforderungen über die Projektdauer mehrheitlich konsistent hält. Je exakter die Aufgabenstellung formuliert ist, desto schneller können die Studierenden mit der eigentlichen Arbeit beginnen», erklärte mir der Fachcoach unseres Projekts in unserem Gespräch. 

Die engmaschige und kontinuierliche Betreuung der Studierenden durch den Industriepartner und den Dozenten ist ein wichtiger Aspekt, der nicht unterschätzt werden darf. Dazu muss das beteiligte Unternehmen Zeit und Ressourcen einplanen. Doch der Einsatz lohnt sich auf jeden Fall, um schlussendlich zu aufschlussreichen und verwertbaren Ergebnissen zu kommen. Und noch ein Tipp von Mike Nöthiger für alle Studierenden, die ebenfalls eine Abschlussarbeit mit einem Industriepartner planen: «Für unseren Erfolg war entscheidend, dass wir uns regelmässig alle zwei Wochen – aufgrund Corona meist online – mit allen Beteiligten trafen, um den Fortschritt unserer Arbeit zu besprechen. So wussten wir rechtzeitig, ob der Arbeitsfortschritt mit den Erwartungen der Stakeholder übereinstimmte und konnten unsere Lösung anpassen.» 

Ich selbst habe versucht, den Studierenden möglichst viel aus dem Weg zu räumen und sie zu unterstützen, so dass sie sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren konnten. Dazu gehörte auch, dass sie in regelmässigen Abständen auf unserer Testanlage ihre Sensorik aufbauen und ihre neuen Programme während eines Tages im realen Umfeld testen konnten. Mit diesen Ergebnissen ging es für die Studierenden dann zu Hause an die Verfeinerung der Programmierung und das Ausfeilen der Algorithmen. 

Erfolgsquote bei 100 Prozent
Vielleicht interessiert es Sie an dieser Stelle, wie denn nun die Aufgabe gelöst wurde? In einem ersten Schritt musste die geeignete Hardware, die aus Stativen, Kameras und Lichtquellen bestand, evaluiert werden. Denn eine grosse Herausforderung in diesem Projekt war es, die Kosten möglichst gering zu halten und trotzdem qualitativ gute Bilder oder Videodaten zu produzieren. In einem zweiten Schritt wurden Algorithmen evaluiert und in diesem Fall selbst entwickelt, welche die gespeicherten Bilder und Videos gemäss den Anforderungen weiterverarbeiten. 

«Zum einen ging es darum, die Hardware zu installieren und eine robuste Kommunikation zwischen den Kameras zu gewährleisten. Weiter musste eine Computer-Anwendung entwickelt werden, mit der die Kameras zentral ferngesteuert werden konnten. Der Knackpunkt bei dieser Entwicklungsarbeit war, dass die Produkte in den Videoaufnahmen auch korrekt erkannt wurden, denn vor allem der teilweise geringe Kontrast zwischen Hintergrund und Produkt bereitete uns Sorgen. Das war richtig knifflig», verriet mir Mike Nöthiger. Eingesetzt haben die Studierenden letztlich das Hintergrund-Subtraktions-Verfahren – eine Software-Lösung, mit der die Basisanforderungen sehr gut abgedeckt wurden: Ein Buch wird auf dem Transportband weggenommen oder dazugelegt. Hier lag die Erfolgsquote des Systems bei 100 Prozent. 

So auch an der Abschlusspräsentation der Arbeit, die bei uns am Hauptsitz in Zofingen stattfand. Zu Beginn führten die drei Studierenden das System an der aufgebauten Teststrecke live vor. Dabei musste es die gestellten Anforderungen erfüllen. Anschliessend wurden die Ergebnisse der Bachelorarbeit detailliert vorgestellt und besprochen. Professor Dr. Stamm freute sich besonders darüber, dass weitere Mitarbeitende von Müller Martini bei der Demonstration anwesend waren: «Das Interesse und die kritische Begutachtung der Resultate durch den Auftraggeber ist für die Studierenden eine grosse Motivation und Bestätigung.»

Win-win-Situation für beide Seiten 
Aus der Zusammenarbeit zwischen Industrie und Hochschule entstehen für beide Seiten interessante neue Inputs. Neben der Erarbeitung eines Funktionsmusters, wie im beschriebenen Fall, können die Aufgabenstellungen ganz unterschiedlicher Art sein. Wir hatten auch schon reine Grundlagenarbeiten, bei denen lediglich recherchiert wurde und Varianten bewertet werden mussten. Geht es um ein Proof of Concept, wird bereits vorhandene Software oder Mechanik weiter getestet, um zu sehen, ob die Entwicklung eingesetzt werden kann. Und bei Umsetzungsarbeiten müssen die Studierenden Entwicklungen aus der Mechanik oder Konstruktion konkret umsetzen. Bei Müller Martini konnten wir die Ergebnisse dieser sehr guten Bachelorarbeit direkt weiterverwenden. Zwar gibt es bis jetzt noch kein verkaufsreifes System, die Ergebnisse werden aber auf jeden Fall in unseren Innovationsprozess einfliessen. Also eine Win-win-Situation für beide Seiten. 

Einen weiteren Vorteil für unser Unternehmen möchte ich zum Schluss noch erwähnen. Mit einer solchen Zusammenarbeit steigern wir auch die Bekanntheit unserer Firma als interessanten Arbeitgeber unter den Studierenden und somit zukünftigen potentiellen Mitarbeitenden. Das darf nicht unterschätzt werden, denn schon mehrfach haben so junge, top motivierte Leute ihren Weg in unsere Teams gefunden. Und das freut mich persönlich immer am meisten. 

Ihr
Reto Jäggi
Solutions Expert Müller Martini
 
22.02.2022 Reto Jäggi Solutions Expert Müller Martini