12.01.2021 / Knud Wassermann

Das Jahr der Entscheidung

Ende des Jahres gehört der Zukunftsreport des Frankfurter Zukunftsinstituts zu meiner Pflichtlektüre. 2021 wird von den Experten rund um Matthias Horx als «das Jahr der Entscheidung» angesehen, in dem sich eine neue (Un-)Ordnung abzeichnen soll.
 
Die Corona-Krise wird ganz sicherlich in die Geschichte eingehen und gleichzeitig auch unsere Zukunft neu schreiben. Viele Veränderungen, die sich schon über die letzten Jahre abgezeichnet hatten, gehören nach ein paar Monaten schon zu unserer gemeinsamen Realität. Etwa das Thema Achtsamkeit – und das sowohl im analogen als auch digitalen Kontext. In den meisten Ländern habe die Krise die Gesellschaft nicht gespalten, sondern das Gesellschaftliche wurde aus der Sicht von Horx dichter und sichtbarer. «Besonders Epidemien haben immer wieder Modernisierungsschübe hervorgebracht.»
 
Tragfähige Geschäftsmodelle und nachhaltige Produktinnovationen
Selbst nach einem auf breiter Basis verfügbaren Impfstoff werden wir nicht mehr zur gewohnten, «alten Normalität» zurückkehren – und das ist auch gut so. Denn mit oder ohne Krise war klar, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Ein kurzer Blick auf unseren persönlichen Ressourcenverbrauch verdeutlich die Problematik. Laut Horx sei es kein Zufall, dass gerade überhitzte Branchen von der Pandemie besonders hart getroffen wurden – der Flugverkehr, der Massen-Tourismus, die Automobilindustrie, die Massentierhaltung. Alles Branchen, die von schnellem Wachstum und Übersättigung gekennzeichnet seien.
 
Krisen würden marktwirtschaftliche Exzesse beenden und zu einer gesamtheitlichen Betrachtung führen. Nur auf Effizienz zu setzen, reiche in Zukunft nicht aus – das gilt auch für die Druckindustrie. Für die Zukunft benötigen wir tragfähige Geschäftsmodelle und nachhaltige Produktinnovationen.
 
Neue Pläne für die Zukunft
Landkarten haben Menschen schon immer ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung vermittelt. Der Kartograf Gerhard Mercator löste im Jahr 1541 das Dilemma, dass man einen runden Körper nicht auf einer zweidimensionalen Fläche darstellen kann, durch die geometrische Konstruktion eines Zylinders um eine Kugel. Allerdings gehen dadurch die Proportionen verloren und verzerren den Blick auf unsere Welt.
 
Der in Singapur lebende «Data-Geograf» Parag Khanna versucht seit vielen Jahren eine andere Art der Kartografie zu schaffen, mit der Verbindungen dargestellt werden können. Die Erde wird nicht als Ansammlung von Landmassen oder Flächen vermessen, sondern als Netzwerk betrachtet. Im Zukunftsreport finden sich zahlreiche interessanten Karten, die einen neuen Blickwinkel eröffnen: wahre Grössenverhältnisse von Ländern, Weltbevölkerungskarten, terrestrische Kabel des globalen Online-Netzwerks, die neue Weltordnung mit neuen Bündnissen und Konflikten und die Karte des humanen Wohlstands bis zu den erneuerbaren Strategien und viele mehr. «Die Art und Weise, wie wir die Welt abbilden, gewichtet sie auch. Weltbilder formen unsere Haltungen, Erwartungen, Vorstellungen. Und prägen damit auch unsere Handlungen», betont Horx.
 
Ein Immunsystem gegen Hass im Netz
In den vergangenen Jahren gab es bereits einen regelrechten Boom der Infografik. Zahlreiche Projekte im Internet und in exklusiven Bildbänden ziehen uns in ihren Bann und vermitteln uns auf einen Blick ungewöhnliche Proportionen und unbekannte Zusammenhänge. Zwei Details aus der «Post-Corona-Trendmap», die sich auch in der Entwicklung der Druckindustrie abzeichnen werden: Die Digitalisierung wird zwar vorangetrieben, gleichzeitig entsteht aber eine Renaissance analoger Kulturtechniken, und dazu gehören etwa Bücher und Magazine. Die Globalisierung schwächt sich ab, während die Sehnsucht nach Heimat und regionaler Verankerung steigt und sich somit auch das Einkaufsverhalten ändern wird.
 
Über das destruktive Potenzial von Social Media herrscht zumindest in der Wissenschaft weitgehend Konsens. Im Zuge der Pandemie zeigten die «Big Socials» erstmals selbst Flagge, indem sie proaktiv gegen Fake-News intervenierten. Die Autorin Anja Kirig ist davon überzeugt, dass im Zusammenhang mit der Pandemie eine Evolution der sozialen Medien eingeleitet wurde: Langsam entwickle sich ein Immunsystem gegenüber Zorn, Hass und Angst im Internet. Das Social-Media-Mindset von morgen fokussiert sich auf Kollaboration und Konnektivität und nicht auf die reine Selbstdarstellung.
 
Von Touchpoints zu Trustpoints
Sinnhaftigkeit und Resonanz werden zur neuen Währung für Marken. Vor diesem Hintergrund müssten sich Marken zunehmend als Sinn-Einheiten verstehen, die nicht nur im Markt, sondern in der Gesellschaft eine Wirkung erzielen. Künftig gehe es daher nicht mehr primär um Produkte und Preise, sondern um Sinnstiftung, Integrität, Verantwortung. Nachhaltigkeit allein reiche nicht aus. Glaubwürdigkeit, Transparenz und eine klare Wertehaltung seien hier gefragt. Somit werden aus «Touchpoints» «Trustpoints». Für das unternehmerische Handeln bedeutet das: Wer faire Produkte verkaufen will, muss auch faire Bedingungen für alle Stakeholder schaffen.
 
Eine Marke, die glaubhaft als kollektive Idee, als erlebbares Anliegen auftritt, erzählt keine Vision mehr – sie ist eine. Marken müssen für ihre Werte in Zukunft authentisch, transparent und konsistent ein- und auftreten.
 
Wir leben in «plastische Zeiten»
Der Wiederaufbau nach Corona sei als eine grosse Korrektur zu betrachten: Er folge der Maxime «Qualität statt Quantität» – was zu einem Mehr an Lebensqualität führen soll. Der Historiker und Philosoph Gershom Scholem bezeichnet jene Momente in der Geschichte, in denen sich vieles plötzlich ändern kann, als «plastischen Zeiten», die den Lauf der Welt verändern. Eine Chance, die sich durch die Corona-Krise auftut, und die sollten wir alle nutzen!

 

Ihr
Knud Wassermann, Chefredakteur «Graphische Revue»