09.02.2021 / Knud Wassermann

Lesen mit Tiefgang

130 Forscher, die sich dem Thema Lesen verschreiben haben, kommen zum Schluss, dass Bildschirme und Papier als Lesemedium nicht gleichwertig sind. Manifestiert haben sie das in der «Stavanger Erklärung».

Die Corona-Pandemie verlieh der Digitalisierung einen ordentlichen Schub – Home-Working war lange Zeit nicht die Ausnahme, sondern schon fast die Regel. Schüler und Studentinnen wurden ins Home-Schooling oder ins Home-Learning vergattert und der Kontakt mit Behörden und Ärzten wurde Grossteils ins Internet verlagert. Eine für uns alle herausfordernde und gleichzeitig auch lehrreiche Zeit. 

Die eine oder andere daraus gewonnene Erkenntnis, wie etwa, dass wir nicht für jedes Meeting in einen Flieger steigen müssen, werden wir sicherlich auch in das Nach-Corona-Zeitalter mitnehmen – und das ist auch gut so. Aber auch im Bildungsbereich wird das jetzt eingeleitete Lernen und Studieren auf Distanz in der einen oder anderen Form erhalten bleiben. Im Zuge der Corona-Krise liessen sich dann auch Regierungen endlich dazu hinreissen, die Schulen mit der notwendigen digitalen Infrastruktur auszustatten.

Bücher dürfen nicht wahllos ersetzt werden
Allerdings muss man die Sache etwas differenzierter betrachten, denn mit der reinen Digitalisierung des Schulbetriebs lassen sich keine strukturellen Probleme beseitigen. Eher besteht die Gefahr, dass Kulturtechniken wie das Lesen auf der Strecke bleiben. Das haben unter anderem 130 Leseforscher aus mehr als 30 Ländern in der «Stavanger Erklärung» in den letzten Jahren zutage gefördert. 

Die Forscher warnen vor einer möglichen «Verzögerung in der Entwicklung des kindlichen Leseverständnisses und der Entwicklung des kritischen Denkens» – vor allem dann, wenn gedruckte Bücher, Hefte und Stifte in der Grundschule rasch und vor allem wahllos durch digitale Werkzeuge ersetzt werden. Sie plädieren weiterhin zur Lektüre gedrückter Bücher, was auch in den zukünftigen Lehrplänen berücksichtigt werden sollte.

Zu viel Ablenkung durch digitale Medien
Die Forscher fassten 54 Studien zu einer Metastudie mit 17'000 Teilnehmern zusammen und leiteten daraus ab, dass das Verständnis längerer Informationstexte beim Lesen auf Papier weitaus besser ausfällt als am Monitor – speziell dann, wenn die Leser unter Zeitdruck stehen. Bei narrativen Texten wurden jedoch keine allzu grossen Unterschiede festgestellt. 

Gerade beim Lesen digitaler Texte überschätzen viele Menschen ihre Auffassungs- und Verständnisfähigkeit, was wiederum zum Überfliegen der Texte verleitet und sich negativ auf die Konzentration auswirkt. Zusätzlich stecken in Smartphones, Tablets, aber auch Computern einfach zu viele Funktionen wie etwa «Push-Nachrichten», die den Leser ablenken und ein vertieftes Lesen weiter erschweren. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, dass diese Tendenz bei den «Digital Natives» eher noch zu- als abgenommen hat – und das unabhängig von Alter und Vorkenntnissen.

Überfliegen wird zum Standardmodus
Maryanne Wolf, eine der Unterzeichnerinnen der «Stavanger Erklärung», sieht die Gefahr, dass das Überfliegen der Texte am Monitor zum Standardmodus wird, der früher oder später auf das Lesen gedruckter Texte übertragen wird. Deshalb sei es notwendig, beide Formen des Lesens schon in den ersten Klassen der Grundschule zu verankern, bis die Kinder ab einem gewissen Zeitpunkt die beiden Medien gut verinnerlicht haben. 

Erst so könnte man verhindern, dass Lesegewohnheiten vom Monitor auf gedruckte Bücher übertragen werden. Wobei an dieser Stelle festgehalten werden muss, dass sich die Verfasser der «Stavanger Erklärung» nicht gegen den Fortschritt stemmen, sondern nur dazu anregen, diesen adäquat zu begleitet. 

Die beglückende Erfahrung des Lesens
Die Digitalisierung ist keine einfache Lösung von Problemen, die immer schon bestanden haben und auch weiterhin bestehen werden. Bildung auf ein iPad zu reduzieren, wäre wohl zu kurz gegriffen. Digitale wie gedruckte Medien haben ihre ganz spezifischen Stärken, die man sich vergegenwärtigen und einverleiben muss. Ein verständnisorientiertes und kritisch reflektiertes Lesen digitaler Informationstexte – wie auch das Lesen gedruckter Texte – muss gezielt gelernt und geübt werden. Je früher desto besser. 

Gerade bei jungen Lesern gilt es, die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit zu fördern, um längere und komplexere Texte sinnerfassend zu lesen und nicht einfach in der Wischfunktion zu überfliegen. Sich in Texten zu verlieren, den Inhalt aufzusaugen und selbst in die Rolle des Protagonisten einzutauchen – das ist eine Erfahrung, die nur gedrückte Bücher liefern können.

Lesen Sie in diesem Interview mit Dr. Hans-Georg Häusel, Diplom-Psychologe und Vordenker des Neuromarketings, warum man aus Büchern besser lernen kann.



Ihr 
Knud Wassermann
Chefredakteur «Graphische Revue»