06.06.2023 / Frank Baier

Spezialisierung als Existenzchance

Wenn in nahezu sämtlichen Druckereibetrieben mittlerweile moderne Weiterverarbeitungs-Technologien integriert sind: Welche Existenzberechtigung haben die auf industrielle Weiterverarbeitung ausgerichteten Dienstleister denn heute noch?

Noch vor einigen Jahren bedauerten viele Dienstleister in der Druckindustrie Deutschlands, dass es keinen Verband mehr für die industriellen Buchbindereien mehr gibt. Tatsächlich ist der Verband Deutscher Buchbindereien für Verlag und Industrie seit weit über zehn Jahren Geschichte. Kaum jemand aus dem Umfeld beklagt heute die Tatsache. Stellt sich die Frage: Braucht unsere Branche eine solche Interessensvertretung noch?

Druck-Weiterverarbeiter haben gar keine Lobby, Handwerks-Buchbinder im Vergleich dazu aber schon. Einige wenige industrielle Druck-Weiterverarbeiter sind Mitgliedsbetriebe in den Verbänden Druck und Medien der DACH-Region. Einzelne Handwerks-Buchbinder sind organisiert in den Bundesinnungen und ähnlichen Vereinen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Doch die Zahl der (Industrie- und Handwerks-)Unternehmen geht seit vielen Jahren weiter zurück. Auch lässt sich gar nicht mehr zahlenseitig erfassen, wie viele es von ihnen gegenwärtig überhaupt noch gibt.

Verändertes Nutzungsverhalten der Verbraucher
Allein die Zahl der Buchbinderei-Werkstätten in Deutschland liegt unterhalb des mittleren dreistelligen Bereichs, die Anzahl der industriellen Druck-Weiterverarbeiter in Deutschland beläuft sich maximal auf wenige Dutzend. Aufgrund der deutlich veränderten Strukturen innerhalb der Unternehmen ist eine klare Kategorisierung schon seit langem vollkommen undenkbar.

Wegen der digitalen Transformation in der Gesellschaft und zunehmender Möglichkeiten der Online-Medien hat sich das Nutzungsverhalten der Verbraucher verändert und zu einem ebenfalls anderen, eher gezielten Umgang mit Printmedien geführt. Darauf reagieren auch die unterschiedlich aufgestellten Weiterverarbeitungs-Dienstleister, indem sie bei Geschäftsmodellen und Produktportfolio sowie Ausstattung und Technologien entsprechende Konsequenzen ziehen.

Die digitale Transformation eröffnet eine neue Welt
Eine Buchbinderei ist oft keine «reine» Buchbinderei mehr. Bekanntermassen integrieren manche industrielle Unternehmen das Handwerk, und manche Buchbinderei-Werkstätten sind indessen teilindustrialisiert. Industrielle Weiterverarbeiter beispielsweise nehmen die Produktion von Verpackungen und Displays in kleineren Auflagen in ihr Portfolio auf und erweitern so ihr Angebot an Print-Erzeugnissen.

Buchbinderei-Werkstätten ergänzen ihr Programm zum Beispiel mit dem Digitaldruck für Print-on-Demand-Service und verstehen sich als ganzheitlich agierende Print-Dienstleister. Während die «Industriellen» den deutlichen Rückgang bei der Produktion von Werbedrucksachen zu kompensieren haben, müssen die Handwerker ausbleibende Aufträge für die Fertigung von Bibliotheks-, Jahresbänden und Sammelbänden ersetzen. Doch die digitale Transformation eröffnet auch eine völlig neue Welt.

Ausrichtungen auf Sonderprodukte
Unvermeidbare Entwicklung ist die Verlagerung der Postpress-Technologien in die «reinen» Druckereibetriebe. Stellt sich immer wieder die Frage: Welche Existenzberechtigung haben die industriellen Buchbinderei- und Druck-Weiterverarbeitungsbetriebe denn heute noch? Auch wenn es das Erfolgsmodell schlichtweg nicht gibt und niemand in die sprichwörtliche Glaskugel schauen kann: Spezialisierung ist oft die Existenzchance.

Ausrichtungen auf Sonderprodukte (zum Beispiel Verpackungen, Gastronomiekarten, Fotosouvenirs), markenbezogene oder auf bestimmte Produktgruppen spezifizierte (B2B- oder B2C-)Online-Bestellshops, Integration von Digitaldruck-Lösungen für personalisierte Erzeugnisse in geringen Auflagen sowie Kooperationen mit Werbeagenturen oder Verlagshäusern zählen zu den Möglichkeiten der Spezialisierung.

Ihr
Frank Baier,
Chefredakteur «Bindereport»

06.06.2023 Frank Baier Chefredakteur «Bindereport»