03.10.2023

«Wir brauchen wieder mehr Schulbücher»

Statt Schulbücher fanden in den vergangenen Jahren in vielen Ländern zunehmend Laptops oder Tablets den Weg ins Schulzimmer. Doch die Forschung fand heraus, dass gedruckte Bücher für das Verständnis von – insbesondere komplexen – Texten vielen Programmen überlegen sind. Nun macht ein erstes Land wieder einen Schritt zurück.
 
Es war ein Entscheid, der nicht nur weit über Schwedens Landesgrenzen hinaus, sondern auch ausserhalb der grafischen Industrie für Schlagzeilen sorgte. Im vergangenen August beschloss die schwedische Schulministerin Lotta Edholm, auf das neue Schuljahr hin statt für Online-Tools wieder vermehrt staatliche Gelder für gedruckte Schulbücher auszugeben.
 
«Handys aus, Bücher auf!»
«Abschalten: Schweden sagt, dass die Rückbesinnung auf die Grundlagen der Schule auf dem Papier funktioniert» titelte beispielsweise der englische «Guardian», «Zu schnell, zu früh? Schweden rückt von Bildschirmen in Schulen ab» doppelte die französische «Le Monde» nach. «Handys aus, Bücher auf!» lautete die prägnante Schlagzeile im deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel».
 
Zwar liegen schwedische Schüler(innen) bei der Lesekompetenz über dem europäischen Durchschnitt. Doch eine internationale Bewertung des Leseniveaus von Viertklässlern (Progress in International Reading Literacy Study/PIRLS) zeigte für den Zeitraum von 2016 bis 2021 bei schwedischen Kindern einen Rückgang auf. «Wir brauchen wieder mehr Schulbücher», folgerte deshalb Lotta Edholm, «denn physische Bücher sind wichtig für das Lernen der Schüler.» Und so legen viele schwedische Lehrer(innen) seit dem neuen Schuljahr ihre Schwerpunkte wieder auf gedruckte Bücher, ruhige Lesezeiten und Handschriftübungen und widmen weniger Zeit Tablets, Online-Recherchen und Tastaturkenntnissen.
 
Was die Wissenschaft sagt
Hintergrund der Rückkehr zu traditionelleren Lernmethoden sind die (nicht nur) in Schweden geführten Diskussionen, ob ein hyperdigitalisierter Bildungsansatz, einschliesslich die Einführung von Tablets in Kindergärten, zu einem Rückgang der Grundkenntnisse bei Jugendlichen geführt hat. Getriggert werden die Diskussionen nicht zuletzt durch wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Thema.
 
So beispielsweise die 2019 veröffentlichte und von 130 Wissenschaftler(inne)n unterzeichnete Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens. Sie befasst sich mit dem Einfluss der Digitalisierung auf Lesepraktiken und resümiert die Ergebnisse von Forschungsprojekten, die Mitglieder der europäischen Forschungsinitiative «Evolution of Reading in the Age of Digitisation (E-READ)» durchführten und auf einer Konferenz in der norwegischen Stadt Stavanger diskutierten.
 
Dabei kamen die Fachleute unter anderem zum Schluss, dass Leser(innen) ihre Verständnisfähigkeiten beim Lesen ab Bildschirm überschätzen würden – was insbesondere unter Druck zu einer Konzentrationsabnahme und zum Überfliegen der Texte führe – und dass das Verständnis von langen Informationstexten beim Lesen von gedruckten Texten besser sei als beim Bildschirmlesen. Zu den Kernpunkten ihrer Empfehlungen gehörte, dass gedruckte Bücher in Schulen weiterhin beworben und zur Verfügung gestellt werden sollen.
 
Gedruckte Bücher sind überlegen
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam ein 2020/2021 erstellter Forschungsbericht des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund in Deutschland. Die Forscher(innen) fanden heraus, dass gedruckte Bücher für den Spracherwerb vielen Programmen überlegen sind, dass sich Leser(innen) von Büchern besser ausdrücken können und dass Viertklässler, die zu Hause Bücher lesen einen wesentlich grösseren Wortschatz haben als Schulkolleg(inn)en, die selten bis nie einen Blick in ein Buch werfen.
 
Und auch eine 2018 von der Delgado-Universidad de Sevilla in Spanien veröffentlichte Studie unter dem Titel «Werft die gedruckten Bücher nicht weg», die Daten von nicht weniger als 169’524 Schüler(inne)n auswertete, unterstrich die Ergebnisse früherer Untersuchungen. Gemäss der Studie schneidet der Bildschirm beim Leseverständnis deutlich schlechter ab als gedruckte Texte. So kann sich beispielsweise das Scrollen auf einem elektronischen Gerät als zusätzliche kognitive Belastung auswirken, weil die räumliche Orientierung im Text schwieriger ist als das Lernen aus dem gedruckten Text. Schlussfolgerung der Studie: Die Bereitstellung von gedruckten Texten ist trotz der Attraktivität von computergestützten Lernumgebungen ein wirksamer Weg zur Verbesserung des Verständnisses.
 
«Für vertiefende Informationen sind Printprodukte besser»
Dass elektronische Geräte neben unbestreitbaren Vorteilen ihre Tücken für das Textverständnis haben (so können beispielsweise Bilder und Töne vom Lernen ablenken), unterstrich auch der deutsche Diplom-Psychologe und Vordenker des Neuromarketings Dr. Hans-Georg Häusel 2018 in einem Interview  mit dem Müller Martini-Kundenmagazin «Panorama»: «Allein schon wenn Sie ein Smartphone oder einen iPad sehen, stellt Ihr Gehirn auf den Belohnungsmodus um – das heisst: Das Gehirn wird unruhig. Es sucht ganz schnell nach einer Belohnung – und die Aufmerksamkeit geht zurück.»
 
Gemäss Hans-Georg Häusel belegen Untersuchungen, «dass Menschen, vor allem natürlich Jugendliche, die sehr intensiv in den digitalen Medien unterwegs sind, schon Symptome entwickeln, die ganz nahe an Aufmerksamkeit-Defizitstörungen sind. Das heisst: Bei Benutzung dieser Geräte geht die Aufmerksamkeit dramatisch hinunter, weil man immer nach der nächsten Belohnung sucht. Zum Lernen braucht man jedoch Aufmerksamkeit, denn man muss sich konzentrieren.»
 
Für ihn gibt es deshalb keinen Zweifel: «Tiefe Strukturen im Kopf aufbauen und sein Gehirn entwickeln, macht man besser mit Print als mit digitalen Medien. Der Spannungszustand des Gehirns spricht gegen lange digitale Texte. Nur wenn mich etwas sehr interessiert, lese ich einen längeren Text online. Für vertiefende Informationen sind Printprodukte besser. Deshalb kann man aus Büchern besser lernen. Denn Print ist ganz einfach das hirngerechtere Medium für viele Dinge.»